Ein Jahr in Paris
Jahrestag der Befreiung von Paris, in allen Straßen die Gedenktafeln der für die Résistance -Gefallenen mit frischen Blumen geschmückt, und noch immer kann man die Schatten der Großväter wahrnehmen, die vier Jahre lang die Stadt und das Land besetzt hielten.
Aber natürlich wollte ich trotzdem mit den boches nichts mehr zu tun haben und hoffte, le Munster würde mich retten, zumindest in den Augen Thierrys.
Nachdem es zwei Tage gestunken hatte, trafen wir uns endlich per Zufall am Haustor, wo ich auf Gaetano wartete. „Wär’ nich nötig gewesen, der Käse.“
„Oh, keine Ursache. Das war wirklich ein Versehen neulich. Ich hoffe, er ist so gut wie der andere?“
„Na ja, er ist nicht übel für einen Géromé.“
„???“
„Wer war das?“ Gaetano war ausnahmsweise einmal pünktlich.
„Das war Thierry, Monsieur Jacques’ neuer Untermieter. Stell dir vor, j’ai mis tout en œuvre , ich habe alles in Bewegung gesetzt, um ihm einen erstklassigen Munster -Käse zum Geschenk zu machen, und er hat nichts weiter dazu zu sagen als: ‚Nicht übel für einen Géromé. ‘ Verstehst du das?“
„Kommt darauf an. Vom Standpunkt der Herstellungsart aus gesehen gibt es eigentlich keinen Unterschied. Nur dass der Käse im Elsass eben Munster heißt und in Lothringen Géromé. Mais c’est bonnet blanc et blanc bonnet – das ist gehupft wie gesprungen. Aber warum schenkst du deinem Mitbewohner Käse?“
„Ach, lassen wir das Thema. Es war jedenfalls das letzte Mal.“ Dann tauchten wir ab ins Gewimmel der Metro, und ich vergaß Thierry. Überhaupt ist die Metro von Paris einer der besten Orte, um zu vergessen. Nirgends sieht man mehr von den Menschen der Stadt als hier. Sie fahren zur Arbeit, zum Einkaufen, ins Kino, zum Arzt; sie reden, lesen oder starren schweigend vor sich hin. Menschen, deren Wege sich zufällig für ein, zwei oder drei Stationen kreuzen. Der ganz normale Alltag eben, der sich hier seit über hundert Jahren irgendwo zwischen Saint-Denis und Châtillon Montrouge, zwischen La Défense und Château de Vincennes bewegt. Und manchmal legt, wenn sich die Türen öffnen, ein paar Takte lang die Violine eines Straßenmusikers einen zart klagenden Klang über alles, so als wolle sie im Angesicht bunter Polyesterjacken und prall gefüllter Tati-Tüten auf die Poesie des Augenblicks hinweisen.
Metrofahren war für mich immer eine Entdeckung, ist es noch, und ich kann gut verstehen, dass Zazie beim Anblick der versperrten schmiedeeisernen Tore in Tränen ausbricht. Es ist Streik. Und deshalb wird sie Raymond Queneausganzes wundervolles Buch über keinen Fuß in den verführerischen Abgrund setzen. 27 Dennoch geht die Geschichte so aus, wie im Grunde alle Parisgeschichten ausgehen müssten:
„Hast du die Metro gesehen?“, fragt ihre Mutter, als sie die Tochter von ihrem Besuch in der Stadt wieder abholt.
„Nein.“
„Was hast du denn getan?“
„Ich bin älter geworden.“
Trotzdem muss ich noch etwas hinzufügen. Erstens, weil diese Geschichte hier noch nicht zu Ende ist. Zweitens, weil ich etwas vergessen habe, oder vielmehr jemanden.
„Weißt du, wie lange du dich nicht gemeldet hast?“ Georg. Mon cul! Ich rechnete verzweifelt dem Datum unseres letzten Gesprächs hinterher.
„Du brauchst gar nicht zu zählen. Es ist zu lange her.“
Ja, es war zu lange her. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Mit meinem kleinen Alltag, mit Metrofahren und Unterwäsche, mit dem Wetter und den neuen Kinofilmen, dem Geld, das nie reichte, und den neuen Schuhen, die ich so gerne gehabt hätte. Lauter banale Dinge, über denen ich begann, mein altes Zuhause zu vergessen. Ich hatte nicht mehr an ihn gedacht und fühlte mich plötzlich wie eine Verräterin. Das doppelt schlechte Gewissen war da.
Verzeih, dachte ich. Andererseits ... „Warum kommst du auch nie her?! Jetzt bin ich schon so lange hier, und du weißt immer noch nicht, wie ich lebe. Woher soll ich denn wissen, dass es dich überhaupt interessiert?“
Und so kam es, dass Georg versprach, bald zu kommen.
26 Unter uns: Beim französischen Käse sind die Grenzen zwischen beiden Stadien im wahrsten Sinne des Wortes fließend.
27 Raymond Queneau: Zazie in der Metro.
November – Königinnen
7. Kapitel, das sich ausschließlich um Frauen dreht. Nicht um irgendwelche natürlich. Sondern um die großartigsten Geschöpfe Frankreichs, die Pariserinnen.
Erkenntnisse: Lieber eine Blasenentzündung riskieren als ordentliches
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