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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silja Ukena
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(immer noch) war.

    „ OÙ EST LE MUNSTER ?!“ Der Schrei war markerschütternd und lockte uns alle in die Küche. Thierry stand vor dem geöffneten Kühlschrank. Noch immer drangen leichte Schwaden des unglaublichen Gestanks daraus hervor. „Ich habe das weggeschmissen“, sagte ich. „Es war nicht mehr gut.“ Irrte ich, oder bemerkte ich ein leichtes Lächeln auf Jean-Lucs Lippen. Alix kicherte. „T’es géniale, toi!“ , gluckste sie. „Du bist genial!“
    Thierry sah das anders: „Bist du wahnsinnig!“ Er starrte mich an. „Ich glaub’ das nicht. Wirft einen Munster fermier àla médaille d’or in den Müll. Putain , so was bringt wirklich nur eine Deutsche fertig!“
    Dann knallte eine Tür.
    „C’est magnifique!“ Alix kriegte sich gar nicht wieder ein. „Du hast seinen Goldmedaillen-geschmückten, von elsässischen Bauern handgebürsteten Käse weggeworfen. Wundervoll!“
    „Ja, doch. Ich hab’s ja verstanden. Aber was mache ich denn jetzt. Wieder rausholen geht nicht. Meint ihr, dass ich ihm einen neuen kaufen sollte?“
    „Ah, pfft!“, machte Alix. „Wozu arbeitet er bei Rungis.“ Der Marché international de Rungis ist der Großmarkt von Paris, und vermutlich wimmelt es dort von den unglaublichsten Käsesorten mit und ohne Goldmedaille (die Franzosen veranstalten regelrechte Käsiaden), dennoch konnte ich nicht lachen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. In dieser Nacht träumte ich von gewaltigen Käsebergen, es waren vermutlich die Vogesen, von deren Gipfeln mir Thierry entgegenrief: „Das bringt wirklich nur eine Deutsche fertig!“
    Französisch für Anfänger V
    Die Vogesen waren immer ein heikler Teil in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen. Schuld daran war jedoch nie der berühmte Münsterkäse, der hier schon seit dem Mittelalter von Mönchen produziert wurde, sondern die Politik. (Falls Sie sich historisch auskennen, können Sie an dieser Stelle abkürzen.) Denn mit der Geschichte des Elsass verhält es sich – ich zitiere hier den genialen Elsässer Tomi Ungerer – wie mit einer „Toilette in der Mitte Europas: immer besetzt“. Erst kam Cäsar, dann kamen die Alemannen, dann die Franken, dann die Karolinger, die Schwaben und die Staufer. Auch danach wurde das Gebiet mitsamt seinen Bewohnern noch einige Male vererbt, verpfändet oder eingenommen, bis es nach dem Dreißigjährigen Krieg aus dem Besitz des Habsburger Kaisers schließlich an Frankreich fiel. Das war zwischen 1641 und 1681. Nach der Französischen Revolution wurde es Teil der neu geschaffenen Republik, und allmählich setzten sich die französische Kultur und Sprache im Alltag der Elsässer durch. Kaum hatte man sich dans l’Alsace zwischen Strasbourg und Mulhouse daran gewöhnt, Franzose zu sein und Hugel statt Hügel zu heißen, gründeten die Deutschen ein Kaiserreich und entdeckten Ansprüche. Natürlich aus rein nationalen Gründen. Die Bergwerke und Eisenhütten? Nun, die würde man eben notgedrungen mit dazunehmen. Es folgten der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und die Niederlage bei Sedan – und Elsass und Lothringen waren Teil von Kaiser Wilhelms Reichs. Man spricht deutsch, lautete das Verdikt. Aus den Hugels wurden wieder die Hügels und Mulhouse zu Mühlhausen. Gefallen hat ihnen das nicht. Frankreich und Deutschland warenseitdem in heftigster Konkurrenz. Als zur Weltausstellung 1889 in Paris der Eiffelturm eröffnet wurde, befand sich auf einer der Plattformen auch ein Restaurant mit dem Namen „Alsace-Lorraine“. Mit Blick in Richtung der Vogesen reichte man dort elsässische Weine und Spezialitäten. Ganz Paris sprach davon. Die Botschaft war einfach: Wer aus 7000 Tonnen Stahl den großartigsten und höchsten Turm der Welt bauen kann, muss sich um ein paar Industriegebiete an der Grenze nicht schlagen. Trotzdem wollte man sie natürlich wieder haben, als nach dem Ersten Weltkrieg der Versailler Friedensvertrag unterzeichnet werden musste. Die Elsässer wurden dazu zwar nicht befragt, aber viele empfanden die einrückenden Franzosen als Befreier. Es dauerte jedoch nur zwanzig Jahre, bis die Deutschen wieder vor der Tür standen, und diesmal hasste man sie wirklich. Wer sich weigerte, Hugel in Hügel zu ändern oder deutsch zu sprechen, hatte die Gestapo am Hals. Wie Deutsche wurden die Elsässer nicht behandelt. Zwar mussten sie ab 1942 Wehrdienst leisten, darüber hinaus herrschte jedoch der gleiche Terror wie in den anderen besetzten Ländern – bis 1945 die gesamte

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