Ein Jahr in Paris
richtige Auto gefahren. Sonntags zum Brunch, in den Ferien zu den Schwiegereltern. Und jetzt frage ich mich: Was hat das alles mit mir zu tun? Nichts. Einmal habe ich gesagt, ich würde dieses Jahr gerne nach Ägypten fahren. ‚Was‘, sagt sie, ‚dieses schmutzige, unzivilisierte Land? Kommt gar nicht in Frage.‘ – Dabei konnten die Menschen dort schonchirurgische Operationen durchführen, als unsere große Zivilisation sich noch im Wald von Wildschweinen ernährte. Von Cashmere-Jäckchen ganz zu schweigen! Aber sich ein Mal für etwas interessieren, was sich außerhalb von Passy abspielt – wozu? Ein Mal marokkanisch essen gehen – warum, wenn man doch Le Scheffer hat? Einmal das Tennis mit der Schwester und deren ‚wahnsinnig erfolgreichen‘ Ministerialbeamten von Mann ausfallen lassen und sich stattdessen am helllichten Tag auf dem Wohnzimmerteppich lieben – wie könnte man, und was sollen die Nachbarn denken? Mein Gott, wie satt ich das alles habe!“
Verzweifelt rührte er in seinem Kaffee, der lange kalt geworden war. Ich schwieg. War das noch der Mann, der mich damals mit seinem Renault Espace vom Bus abgeholt hatte? Fast ein Jahr war das jetzt her, und unwillkürlich verließen meine Gedanken Arnaud und das Kaufhausrestaurant und gingen den Weg zurück, den ich seit damals gegangen war. War ich noch die, die er damals mit ihrem Koffer am Étoile eingesammelt hatte? Das Gefühl, das ihn aus seiner fraglosen Welt hinausgetrieben hatte, kannte ich nur zu gut. Diese Lust auf anderes. Nur hatte ich im Gegensatz zu ihm die Freiheit gehabt zu gehen, ohne das Leben eines anderen zu zerstören. Es waren die entscheidenden zehn Jahre, die zwischen uns lagen. Ich mochte nicht in seiner Haut stecken. Aber ich konnte ihm auch nichts raten.
„C’est la crise de la quarantaine“ 49 , sagte Alix, als ich ihr von Arnaud berichtete, mit einem Schulterzucken. „So einen hatte ich auch mal. Er wollte sich scheiden lassen, aber ich durfte ihn auf keinen Fall anrufen. Und dann haben sie ein zweites Kind bekommen, und er hat seine Zahnbürste wieder mitgenommen.“
„Und was hast du gemacht?“
„ Moi, je suis tombée amoureuse de mon psy.“ 50
Zwei oder drei Tage später, ich bin beim Warestapeln im Lager. Marie-Line mit einem Lächeln, das für drei reicht: „Dépêche-toi, ma chère. Da ist jemand für dich da.“
Oh, nein, nicht schon wieder! Ich bin schließlich nur eine kleine Dessousverkäuferin und eigne mich nur sehr bedingt als Beichtvater oder Familientherapeutin.
„Il s’est mis sur son trente et un, je dirais“ 51 , sagt sie und zwinkert vielsagend. Was auch immer meine geschätzte Kollegin mir damit sagen will. Ich setze also ein gestresstes Gesicht auf und mache mich auf den Weg.
„Oh, ich komme wohl ungelegen? Ich hätte vielleicht vorher Bescheid sagen sollen. Aber ich hatte deine Nummer nicht, und da ich gerade ...“
“Aber nein. Ich meine, du störst überhaupt nicht. Ich hatte sowieso gerade nichts zu tun. Kann ich dir irgendwie helfen? Suchst du etwas Bestimmtes? Wir haben gerade neue Modelle reinbekommen.“ Himmel, wann hat eine erwachsene Frau zuletzt solchen Schwachsinn geredet! Aber Baptiste bleibt vollkommen unbeeindruckt. Er sieht tatsächlich ziemlich chic aus. Die Haare viel kürzer und das Hemd ausnahmsweise so zugeknöpft, dass das Tattoo nicht mal zu erahnen ist.
„Also, eigentlich suche ich ein ganz besonderes Modell. Eine Maßanfertigung sozusagen. Die Marke kommt aus Deutschland, glaube ich. Ich bräuchte es heute Abend gegen halb neun und würde es dann von meinem Chauffeurabholen lassen. Es müsste aber sehr hübsch verpackt sein. – Ist das machbar?“
„Ich, äh, denke schon ...“ Ich stottere wie Thierrys alter Renault, wenn es ihm nachts zu kalt geworden ist, und sehe Baptiste nach, wie er Richtung Rolltreppe verschwindet.
„Der gefällt mir besser als der andere, dieser Anzug-Typ“, sagt Marie-Line neben mir. „Auch wenn der vermutlich mehr Geld hat.“
„Ja, Arnaud hat Geld, aber auch eine Krise, eine Frau, zwei Kinder und eine Geliebte.“
„ Oh là là. Die ändern sich nie, die Kerle.“
„Dafür hat Baptiste ein Tattoo auf der Brust.“
„Nun, Chérie , das sind die Männer, mit denen man rechnen muss.“
„Aber er hat auch eine Freundin.“
„Schätzchen, wie lange lebst du jetzt hier?“
Ach, Marie-Line, wenn ich nur ein paar Jahre mehr zum Üben gehabt hätte. Stattdessen verheddere ich mich ständig mit den kleinen
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