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Ein Jahr in Paris

Titel: Ein Jahr in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silja Ukena
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seine Gitanes rauchte und nicht mehr diesen groben Osttabak. Er beobachtete Kolja, der ihm erst neulich erklärt hatte, wenn er groß sei, wie „Zizou“ Zidane werden zu wollen, und Lilli, die schon lange niemand mehr Natalia oder Natascha gerufen hatte. Er sah, wie sie sich morgens für den Tag schminkte und versuchte, in ihr das Mädchen aus dem Jugendclub wiederzuerkennen, in das er sich vor so vielen Jahren verliebt hatte, und dabei begriff er etwas: Sie alle drei waren, ohne es zu bemerken, zu Parisern geworden. In dieser Stadt und nur hier war jetzt ihr Zuhause. Nicht in der Ukraine, nicht in Frankreich, ja vielleicht nicht einmal an jedem Ort dieser Stadt. Aber hier, zwischen algerischen Großfamilien und portugiesischen Hausmeisterinnen, hatten sie Wurzeln geschlagen. Und selbst wenn es noch Jahre oder vielleicht sein ganzes Leben lang dauern sollte, bis er endlich einmal eine Boutique in Saint-Germain betreten und mit einem Geschenkkarton für Lilli unter dem Arm wieder verlassen könnte, so wollte er doch nirgendwo anders mehr leben. Am nächsten Sonntag zündete er in der Kirche eine Kerze für den für sie zuständigen Beamten in der Präfektur an.
    Was aber letztlich dessen Entscheidung beeinflusst hat – Pawles Kerze, Lillis „Vitamin B“, die Tatsache, dass ihr Sohn praktisch in Frankreich aufgewachsen war oder schlicht und einfach nur Glück –, das haben die Andruchowitschs nicht erfahren. Viel wichtiger war ohnehin, dass sie die carte de séjour bekommen haben. Ein Jahr galt diese Aufenthaltsgenehmigung vorerst, eine Verlängerung aber, so sagte man ihnen, sei „bei guter Führung“ kein Problem. Damit einher geht das Recht auf einen Arbeitsvertrag, bezahlte Ferien, Rente und Krankenversicherung. „Seither“, sagt Pawel, „fühle ich mich wie ein freier Mann. Neulich bin ich sogar einmal im Bus schwarzgefahren, einfach so aus Spaß.“
    Französisch für Anfänger VIII
    Einwandern nach Frankreich ist kein Problem – solange man Europäer ist. Inzwischen braucht man nicht mal mehr eine carte de séjour , es sei denn, man ist Student oder Au-pair, und selbst dann ist es zwar lästig wie jeder Ämtergang, aber im Grunde kein Problem. Schwierig wird es nur für diejenigen, die keine EU-Staatsbürgerschaft haben.
    Die Grundlage der heutigen Einwanderungspolitik wurde in Frankreich 1945 gelegt. Damals gründete man das „Office national d’immigration“ (ONI), das heute „Office des migrations internationales“ (OMI) heißt, und führte drei verschiedene cartes de séjour ein, die je ein, drei oder zehn Jahre gültig waren. Da Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg laut Charles de Gaulle „12 Millionen Babys“ brauchte, um demografisch und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, förderte man damals vor allem die Zuwanderung von Familien. Der erste Immigrationsboom kam mit dem Wirtschaftswachstum und der Unabhängigkeit Algeriens in den 1960er Jahren. Die erste Ölkrise bereitete der Offenheit jedoch ein Ende. Ab Mitte der 1970er wurde die Immigration unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing zeitweilig sogar ganz gestoppt. Damit geriet die Einwanderungspolitik erstmals in die Kritik: Es gab Proteste und Demonstrationen der Kirchen und politisch links orientierter Vereinigungen, und zum ersten Mal traten von Abschiebung bedrohte sans papiers in Hungerstreik.
    Danach tendierte die französische Ausländerpolitik je nach Minister mal zu mehr, mal zu weniger Toleranz, im Grundsatz aber wurde die Einwanderung für EU-Bürger immer leichter und für alle anderen immerkomplizierter. Von sich reden machte in jüngster Zeit Nicolas Sarkozy, der – selbst Sohn eines ungarischen Immigranten – als Innenminister der konservativen Partei UMP für eine massive Verschärfung der Einwanderungsgesetze sorgte. Seine erste Vorlage stammt von 2003, die zweite von 2005, eine weitere passierte den französischen Senat im Juni 2006. Diese so genannte „loi CESEDA“ (Code sur l’entrée et le séjour des étrangers et sur le droit d’asile) unterscheidet die Einwanderung nach zwei Schlüsselkategorien, der immigration choisie und der immigration subie . Erstere ist die „erwünschte“ Einwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte und ihrer Familien. Für sie gibt es auch einen neuen Aufenthaltstitel namens „Kompetenzen und Talente“. Immigranten, die diesen Status erhalten, dürfen zunächst drei Jahre in Frankreich bleiben. Falls sie auch danach noch ein festes Arbeitsverhältnis

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