Ein Jahr in San Francisco
auf der Clayton Street, eröffneten Volksküchen, in denen jeder, der Hunger hatte, etwas zu essen bekam. Außerdem gab es Shops, in denen die Besucher nur so viel bezahlen mussten, wie sie zur Verfügung hatten, und Musikkonzerte waren sowieso gratis. Und was die Drogen anging, könnte man behaupten, dass sie so einfach zugänglich waren wie heute das Startkapital im Silicon Valley. Geblieben ist zumindest die Tradition der kostenlosen Konzerte; das Sterngrove Festival sowie das Hardly Strictly Bluegrass Festival im Golden Gate Park werden immer noch von Jung und Alt besucht und von einigen generösen Spendern finanziert.
„Tja, in diesem Viertel hier haben die Hippies zur Musik von Janis Joplin, Grateful Dead und Jefferson Airplane getanzt, sich geliebt und …“, Vijay schwenkt ins Theatralische, „alles hätte so schön sein können …“ – „Nun ja, Charles erzählte mir, alles sei derartig ausgeartet, weil man die Hippie-Bewegung kommerziell ausnutzte und vermarktete, gnadenlos.“ Am Ende fuhren die Touristenbusse durch Haight-Ashbury , und Menschen aus aller Welt strömten in diesen kleinen Ort, um dem Vordenker der Bewegung, dem Harvard Professor und LSD-Guru Timothy Leary, zu folgen. Der Höhepunkt der Bewegung, zu dem sich zuletzt mehr als eine halbe Million Menschen in das kleine viktorianische Wohnviertel drängten, war auch gleichzeitig deren Ende. Die Hippies flüchteten sich in ihre bewusstseinserweiternden LSD-Welten. Die Nachricht vom Drogentod der 27-jährigen Janis Joplin ging um die ganze Welt. Paul Kantner, Musiker der Rockband Jefferson Airplane, sagte einmal treffend: „If you can remember anything about the sixties, you weren’t really there.“ (Wenn du dich an irgendetwas aus den Sechzigerjahren erinnern kannst, bist du nicht wirklich dort gewesen.) „Kommt Leute, es ist kalt. Lasst uns noch alle zu mir auf ein Bierchen gehen“, unterbricht Alex plötzlich unsere Straßendiskussion, und keiner hat etwas dagegen.
Einige Tage nach unserer Halloween-Rettungsaktion hat Rose Geburtstag. Und selbstverständlich wird das Geburtstagskind an seinem Ehrentag von den Freunden eingeladen: auf Essen, Drinks und Ausgehen. So ist es Brauch in den USA, und am Samstagabend sitzt unsere Clique mit einigen asiatisch-amerikanischen Freunden von Rose im Delancey Street Restaurant in SoMa . „Auf den ersten Blick merkt ihr gar nicht, dass dies ein Restaurant der etwas anderen Art ist, oder?“, fragt Rose geheimnisvoll. Was sie bloß damit meint? Geschäftig laufen die Kellner durch den Raum und decken Tische mit frisch gebügelten Tischdecken, Besteck und Servietten ein. Alles sieht normal und unprätentiös aus. „Die Servicekräfte, die hier arbeiten, sind alle ehemalige Strafgefangene. Die Delancey Street Foundation gibt ihnen eine zweite Chance.“ – „Bitte, was? Straftäter?“, flüstert Mari Carmen und schaut Rose erschrocken an. Dann richtet sich ihr Blick auf den Kellner, der in einwandfreiem weißem Hemd und glänzend polierten Schuhen neben ihr am Tischsteht und sie fragend anlächelt. Rose wartet, bis der Kellner unsere Bestellungen aufgenommen hat und den Tisch wieder verlässt. „Menschen, die zum Beispiel durch übermäßigen Drogenkonsum, Geld- oder Beziehungsprobleme in Schwierigkeiten gerieten, dürfen hier einen Neuanfang wagen. Die Organisation, die Delancey Street Foundation, bildet sie aus, und die Männer sind froh, dass sie diese Chance erhalten. Mindestens zwei Jahre dauert die Teilnahme am Rehabilitationsprogramm. Doch viele bleiben von sich aus länger; teilweise bis zu vier Jahren. Eine Studienkollegin hat mir das Restaurant empfohlen“, sagt Rose zufrieden. Mich freut etwas anderes. Ich fahre mit dem Zeigefinger die Karte entlang: „Die Preise sind total fair. Guck doch mal, wo zahlst du bitte sonst drei Dollar für ein Bier?“ Ein bunter Mix aus Nudel-, Fisch- und Fleischgerichten steht im Angebot. Doch Vijay grinst nur: „Typically German – you guys love Schnäppchenjagd.“ Hätte ich ihm doch bloß nicht vor einigen Tagen ein paar typisch deutsche Begriffe wie Schnäppchenjagd, Gemütlichkeit und Pünktlichkeit erklärt. Seitdem plappert er sie wie ein Papagei bei jeder Gelegenheit nach. „Cheers, Rose!“ Alle erheben ihre Gläser, und wir stoßen an. „Happy birthday!“ Vijay schlägt sein Glas so stark gegen das von Mari Carmen, dass der Rotwein überschwappt und sie einen bitterbösen Blick über den Tisch sendet. Eine Sekunde später zuckt Vijay
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