Ein Jahr in Stockholm
meine Fotografin aus, und schon sitzen wir auf den besten Plätzen und mummeln uns in die Vliesdecken, die überall bereitliegen. Bei dem Wind, den das Meer durch die Stadt schickt, und ohne direkteSonne wäre es sonst unmöglich, die freie Zeit abends draußen zu verbringen. Aber das muss natürlich sein, schließlich sind wir in und unter Schweden.
SVT1 , der Sender, der die Preisverleihung live überträgt, hat die Bühne mit mächtigen Blumengebinden zu einer Kulisse dekoriert, die selbst einer hoheitlichen Hochzeit würdig wäre. Dennoch bleibe ich skeptisch, ob sich Victoria dazu hinreißen lässt, die Trennung von ihrem Daniel bekannt zu geben und in Las-Vegas-Manier mit einem der anwesenden Rocker von Mando Diao durchzubrennen. Beim Auftritt der ersten einstimmenden Musikgruppen jedenfalls fahren Filmkameras vor Caro und mir auf und ab und zoomen manchmal auf unsere betont literaturbegeisterten Mienen. Dann plötzlich stehen alle auf und blicken auf sie: die elegante Dame in Seidenbluse und Flanellhose, die ihre Haare locker zu einem Pferdeschwanz gebunden hat.
Was ich im Sprachkurs über sie berichtet habe, bestätigt sich mit einem Schlag. Ihr Lachen ist tief, derb, gar nicht prinzessinnenhaft und extrem ansteckend. Ebenso unkompliziert und sympathisch gibt sie sich im Umgang mit ihren Untertanen, sie winkt, stützt die auf der Treppe strauchelnde Kulturministerin und wartet später geduldig, bis das Fotografen-Rudel vor der Bühne ihr Bild hat. Dann setzt sie sich schräg vor uns in die erste Reihe.
Neu für mich sind ihre Vorbehalte gegenüber der etwas überdrehten Pippi Langstrumpf und die Liebe zu Katthults Michel, die sie in ihrer Laudatio gesteht. Als die australische Preisträgerin versucht Schwedisch zu sprechen, was ziemlich in die Hose geht, haut sie sich vor Belustigung auf die Schenkel. Zum Ausklang stimmen dann alle ein Potpourri aus Lindgren-Liedern an. Aus einer gewissen Richtung trägt der Wind immens schiefe Töne zu mir herüber, und ich frage mich, welche Vorbehalte ich gegenüber der Monarchie noch mal hatte.Daheim hat Oskar unseren Auftritt im Fernsehen registriert, unsere Geschichten will er aber nicht hören. Seine Gedanken gelten dem letzten Maitag und der Herausforderung seines Lebens. Selbst ihn hat der schwedische Bewegungsfanatismus erfasst: Er hat sich vorgenommen, den Stockholm-Marathon zu laufen, doch langsam bekommt er vor seinem eigenen Mut Panik. In den vergangenen Wochen hat er einen unvermuteten Tatendrang entwickelt, war im Fitnessstudio, hat die Strecke erkundet, sich einen Trainingsarzt zugelegt, auf Eis und Bier verzichtet. Leider hat seinen irritierten Körper nun, so kurz vorm Ziel, eine Erkältung heimgesucht. Caro und ich mussten viel Überzeugungsarbeit leisten, damit er überhaupt an den Start geht, doch seine Motivation ist weiter auf null.
Als es Zeit ist, ins Bett zu gehen, dringt der Geruch von beißendem Menthol und faulen Eiern in unsere Zimmer. Aus der Küche kommt das nicht. Wir vermuten den Verursacher unten auf der Straße und gehen hinaus auf den Balkon. Hier ist der Gestank fast unerträglich – und der Schuldige ausgemacht. „Tolle Wurst! Was soll das, Oskar, bist du verrückt?“ Unser Mitbewohner sitzt splitterfasernackt am offenen Fenster, den Laptop auf dem Schoß, das linke Bein in einer trübgrünen Brühe, die die gemeinen Dämpfe aussendet.
„Gunilla hat gemeint, ich solle das um Mitternacht machen. Bei ihrem Sohn hilft das immer. Ich will Samstag fit sein.“ – „Sollst du das nicht besser inhalieren und dich ins Warme setzen, dumbum? “ Der Junge bibbert, da rutsche ich kurzzeitig in die Mama-Rolle.
„Nein, ich soll die Füße abwechselnd eintauchen und Frischluft schnappen.“ – „Und dabei den Vollmond betrachten und ein Horoskop erstellen?“ Caro ist fassungslos.
Oskar dreht die Jalousien zu und spricht kein Wort mehr mit uns. In der Nacht höre ich ihn jämmerlich husten undschiebe den Rest meiner grünen Lutschpastillen durch einen Türspalt.
Dann ist er da, der Tag aller Tage. Ich spaziere mit Lars die wenigen Meter von der Wohnung hinüber zum Valhallavägen, der seit dem Morgen voll ist mit Picknickern, Schachspielern, Kontrolleuren in neongelben Leibchen und Fischbuden, vor denen sich Schlangen bilden. An den Trinkstationen werden Unmengen an Pappbechern gefüllt, Pferde tragen Polizisten vorbei. Statt der erwarteten 18 ist es mit 25 Grad wieder sommerlich warm geworden, was die wenigsten der 15 000 Läufer
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