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Ein Jahr in Stockholm

Titel: Ein Jahr in Stockholm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Beer
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aus gut sechzig Nationen freuen dürfte. Wir halten Ausschau nach Caro, die im Zentrum unterwegs war, doch da schallt vom Lidingövägen schon der Startschuss herüber.
    Hinter den Wagen mit der Zeitmessung sprinten die besten Europäer und die Vorhut der Kenianer; ihnen folgen, so gut sie können, die nach bisherigen Laufergebnissen eingeteilten Männer und Frauen. Oskar kommt erst in Gruppe F mit Startnummer 10118, das weiß ich. Ich mache also zunächst einmal Fotos von den dynamischsten Sportlern und jenen, die im weißen Tütü unterwegs sind, einen Lorbeerkranz tragen oder auf Armen und Schenkeln mitteilen:

    Gunnar, Du wirst Papa!

    Ich knie gerade auf dem Gehsteig und knipse durchtrainierte Waden, als ich wen brüllen höre: „Hej, hej, Vero! Hej! Vero! Hej!“ Lars ist das nicht. Ich springe auf, entdecke von Oskar aber nur mehr in der Luft zappelnde Arme, die von der Herde mitgerissen werden.
    Er hatte am Kühlschrank einen Zettel mit der Bitte hinterlassen, Caro oder ich möchten ihn „in Aktion“ fotografieren. Ich überlege, wo ich diesen Wunsch auf den restlichen vierzig Kilometern am besten erfüllen kann, die in zweiunterschiedlichen Runden durch die Stadt führen. Wegen des großen Andrangs wurde die Marathonstrecke geändert, um einem Stau an der engsten Passage am Sankt Eriksplan zu entgehen. Ich beschließe, mein Glück in vier Stunden an der Västerbron-Brücke zu versuchen. Wenn Oskar bis dahin die Puste ausgeht, habe ich wenigstens einen grandiosen Ausblick auf die Stadt.
    Der Stockholm-Lauf ist mehrfach als schönster und landschaftlich reizvollster Marathon der Welt ausgezeichnet worden. Die Strecke verläuft abwechslungsreich durch den Park Ladugårdsgärdet, um den Fernsehturm Kaknästornet herum, hinunter zum Strandvägen, wo die Reichsten der Reichen hinter den kunstvollen Fassaden der Jahrhundertwende residieren und das erste Mal Großstadtgefühl aufkommt. Weiter geht’s vom Theater Dramaten zum Veranstaltungsplatz Kungsträdgården direkt im Zentrum, über Schloss und Altstadt hinüber zum Södermälarstrand und immer dem Wasser und den Hausbooten entlang zur Västerbron, bevor sich die Teilnehmer am gegenüberliegenden Ufer auf den Rückweg zum Olympiastadion machen. In Runde zwei wird Gärdet nur quer durchlaufen, um hinterrücks auf die Insel mit den endlosen Wäldern Djurgårdens zu gelangen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Oskar heute Augen dafür hat.
    Ich knipse ihn tatsächlich auf der Västerbron. Von „in Aktion“ kann da allerdings keine Rede mehr sein kann. Eine Stunde lässt er mich warten, bevor er mit einer Banane in der Hand so gemächlich über den Asphalt marschiert, als wäre das Rennen längst gelaufen. „Sag mal, du bist doch nicht zum Lustwandeln hier!“, rufe ich vorwurfsvoll. Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, ihn für das letzte Stück kräftig anfeuern zu können. „ Ta det lugnt! Ich habe gerechnet. Wenn ich ab jetzt langsam gehe, schaffe ich’s rechtzeitig ins Ziel.“
    Oskar hatte alle Kontrollpunkte zu den gesetzten Fristen passiert und sich zur Belohnung an einer Energiestation einePause mit Gemüsebrühe, Traubenzucker, Cola und Salzgurken gegönnt. Mir hält er als Geschenk einen Müsliriegel unter die Nase und streckt für das gewünschte Foto sekundenlang ein Bein in die Höhe, um Aktion vorzutäuschen. Dann spaziert er weiter, sichtlich zufrieden mit sich und schon ein wenig hochmütig. „So. Ich habe jetzt keine Zeit mehr zum Plaudern. Ich werde erwartet.“
    Am Abend erwarten auch wir ihn, zu Hause. Ich habe im Schnellverfahren sein Foto entwickeln lassen, um das wir jetzt den Spruch „Wir sind stolz wie Oskar“ sowie die Zahlen 10281 und 5:32.09 dekorieren, seine endgültige Platzierung und Laufzeit. Dabei werden wir ein wenig sentimental, denn unter die Ehrfurcht vor Oskars Durchhaltevermögen mischen sich Abschiedsgefühle. Am folgenden Morgen wird unser Mitbewohner seine Sachen packen und in eine eigene Wohnung ziehen. Trotz seiner ausgewiesenen WG-Untauglichkeit, des ewig vollen Mülls, der dreckigen Wanne und des Aussitzens von bis zu neun Tagen ohne Toilettenpapier ist es irgendwie bedrückend, dass er geht.
    Selbst nach einer ausgiebigen Dusche ist Oskar noch vom Rennen benommen. Er muss sich an der Stuhllehne festhalten, als wir ihm das Bild schenken, und dann an uns, als wir ihn zum Abschied drücken. Er bedankt sich wirr und lädt uns ein, ihn zur fika in seiner großen Lüsternheit ( lystenhet ) zu besuchen. Wir

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