Ein Jahr in Stockholm
wandern weiter am Wasser entlang, blicken hinüber zu den Seglern auf Djurgårdsbrunnsviken, der Tiergartenbrunnenbucht. Von dem Wort vik , der Bucht, soll übrigens die Bezeichnung Wikinger kommen, wie uns Sverker erklärt hatte. Nur einer von hundert Wikingern war der klischeehafte Pirat; bei den allermeisten handelte es sich um friedliche Bauern, Handwerker und Geschichtenerzähler, die sich für das Gold und den Schmuck von anderen Leuten nicht mehr interessierten als erlaubt. Von diesem sagenumwobenen Menschenschlag stammen sie ab, die sportverrückten Stockholmer, die uns hier auf dem Rosendalsvägen in Gestalt von Joggern und Mountainbikern passieren. Trotz meiner neuen Sportbegeisterung geht mir langsam die Luft zur Neige. Die sommerlichen Temperaturen treiben mir bereits beim Gehen den Schweiß auf die Stirn, und als es dann noch den steilen Kieshang zu Rosendals slott hinaufgeht, spüre ich, wie ausbaufähig meine Kondition ist. Rechts überholt mich ein Quartett brauner Minifrösche.
Auf der Anhöhe erwartet uns ein Lustschloss, das sich romantisch hinter Baumzweigen versteckt. Daneben erkenneich die Orangerie, Rosengärten, Heckenlabyrinthe und ein Café im lichtdurchfluteten Gewächshaus. Befinde ich mich wirklich noch im Zentrum einer europäischen Metropole? Auf der rechten Seite flanieren Paare um Blumenbeete, Gärtner schieben Schubkarren voller Unkraut zu Komposthaufen, die sich als blühende Hügel in der Landschaft tarnen. Weiter drüben wachsen die prächtigsten Artischocken, Rhabarberstangen und dicke Kohlköpfe.
Ich kann mich nicht sattsehen, doch Annika weist uns mit gedämpfter Stimme eindringlich an, auf die Hunde zu achten. Hinten am Waldrand haben Rehe sich auf die Lichtung gewagt, uns entdeckt und sind in ihrer ganzen Lieblichkeit erstarrt. Wir schleichen mit extrem weichem Gang an ihnen vorbei, was in etwa so idiotisch aussehen dürfte wie bei den Dalton-Brüdern aus den Lucky-Luke-Comics. Die Rehe betrachten uns entsprechend skeptisch, scheinen jedoch unsere Harmlosigkeit zu spüren. Sie widmen sich bereits dem Kohl, als die letzten Hunde im Vorbeigehen gelassen den Kopf nach ihnen drehen. Ta-det-lugnt weit und breit.
Zwischen dem Djurgårdsvägen und Prins Eugens Väg hat die Stadt den Hunden eine Wiese eingezäunt, wo sie sich so lange austoben können, bis sie nur noch Schlafen im Sinn haben. Ich bin schon müde und froh darüber, mich auf einer Parkbank niederlassen zu können. Ich lege den Kopf auf das sonnenwarme Holz und schließe die Augen.
Von Skansen, dem ältesten und größten Freilichtmuseum der Welt, kommt ein Windstoß mit Musik herüber. Es sind die ersten Proben für den Allsång, das ungemein beliebte Gemeinschaftssingen, wofür Familien dienstagabends mit Picknickkörben anrücken, um mit skandinavischen Chanson-, Rock- und Schlagergrößen populären Weisen wie „Stockholm i mitt hjärta“ („Stockholm in meinem Herzen“) zu frönen. Um die 30 000 Menschen kommen direkt an die Bühne; 3,3 Millionen sehen sich die Live-Übertragung im Fernsehen an.Somit ist die wöchentliche Einschaltquote des Allsång sehr viel beeindruckender als die des ZDF-Flaggschiffs „Wetten, dass ..?“. Bei den Melodien gelingt es mir, mich nach einer turbulenten ersten Monatshälfte endlich richtig zu entspannen und über die neuen Eindrücke und Begegnungen zu sinnieren.
Oskar war noch nicht richtig aus- und Caro in sein Zimmer (mit Fenster!) eingezogen, da stand sie plötzlich da: unsere neue Mitbewohnerin Linnéa, ihres Zeichens zweite Ziehtochter von Gunilla. Zwar wurde Linnéa genauso wenig wie Ida von Gunilla aufgezogen; sie stammt aus einem klassischen Elternhaus (zwei Eltern, ein Haus). Dennoch kompensiert sie aus einem für uns unerfindlichen Grund ihr Defizit an Geld, Rat und Urlaub bei Gunilla. Sie wohnt ohne zu bezahlen bei der Familie unserer Vermieterin – und jetzt eben ein Stockwerk höher bei Caro und mir.
Sie ist zwanzig, groß und hat eine sagenhafte Figur. Darüber trägt sie immer nur eine Kleinigkeit, wie die meisten Schweden: in dem Fall ein Satinkleid in Altrosa, das sich mit dem Pink ihrer hochhackigen Lacksandalen beißt. Auf den ersten Blick sieht sie überhaupt nicht schwedisch aus. Die tolle Bräune und die langen schwarzen Haare hat sie von ihrer thailändischen Mutter. Doch Linnéa ist die typische Östermalmerin: In ihr Kühlschrankfach packt sie nichts außer einer museumsreifen Sammlung von Nagellacknuancen.
Das Einzige, was nicht zu Linnéas
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