Ein Jahr in Stockholm
aussehenden Verkäufer dahinter eine Eismütze, was im Zusammenspiel mit dem Rollwagen und dem gelben Sonnenschirm Assoziationen zu Kindertagen hervorruft, als gelati! -schreiende Casanovas ihre Karren über denStrand manövrierten. Italiener habe ich in Stockholm aber nur ein einziges Mal getroffen, am Flughafen; sie waren auf dem Weg, am Nordkap ein Limonenbäumchen zu pflanzen. In den vergangenen Jahrzehnten hat Schweden vor allem politische Flüchtlinge aus dem Iran, dem Irak und Chile aufgenommen, die problemlos die Vergangenheit und – wie jeder Schwede auch – den Namen hinter sich lassen können, wenn sie es möchten. Und so ist es vielleicht Hampus Hansson, der mir nun den Schwedendöner in die Hand drückt.
Ich lasse mich kurz auf den Stufen des leicht schmuddeligen Medborgarplatsen an der Götgatan nieder, an dem mit dem Debaser der beste Musikclub der Stadt liegt. Um mich herum reihen sich für Södermalm etwas zu schicke Cafés und ein Kinokomplex im Gebäude der eher tristen Markthallen. In der Stadtbibliothek in meinem Rücken laufen kostenlos die bekanntesten Werke im Sommerkino. Wenige Meter weiter betteln obdachlose Alkoholiker; knapp daneben eröffnet wiederum ein exklusiver Hutladen, an dem selbst die Queen Gefallen finden würde. Vor mir lese ich auf einem Glasmonument:
Außenministerin Anna Lindh hat auf der Treppe zum Medborgarhuset am 9. September 2003 ihre letzte Rede gehalten.
Eine merkwürdige, aber elektrisierende Mischung. Stockholm ist alles, erinnere ich mich an Oskars seltsam philosophische Worte. Sechs Wochen sind seit seinem Auszug vergangen. Ich sollte ihn endlich anrufen, nehme ich mir vor, und mache mich auf den Weg zur Vorschule.
Nadine will wieder nicht mit mir sprechen, und da ich die Anweisung ihrer Mutter befolge und ihr kein Eis und keine Bonbons kaufe, möchte sie noch nicht einmal den Nachhauseweg mit mir ablaufen.
Ich versuche sie mit allerhand Nettigkeiten zu überreden.
Interessiert sie nicht die Bohne, sagt sie, bevor sie mit ihrem dicken Schulranzen um ein Häusereck rennt.
Als ich ihr folge, flitzt sie unter Nachahmung eines Martinshorns zurück und versteckt sich hinter Blumentöpfen. Dort legt sie die Hände an eine unsichtbare Pumpgun und schießt mit tönendem „Da-da-da-da-da-daaa“ um sich auf die Passanten. Mir ist das simulierte Gemetzel unsagbar peinlich. Aber die Leute scheinen Nadines Verhalten nicht absonderlich zu finden. Kinder dürfen in Schweden durchaus laut und unberechenbar sein.
Nachdem wir es auf diese Art eine halbe Stunde lang keinen Meter weitergeschafft haben, spreche ich deutschen Klartext, der Nadine ob des harschen Klanges tatsächlich zu beeindrucken scheint. Dann gehe ich schnurstracks zur Wohnung. In Schaufensterscheiben erkenne ich, dass sie trotzig hinter mir herschlurft und kaum mehr um sich ballert. Ich bete inständig, dass das Kind des Teufels nicht vom Bus überfahren wird.
Als die Mission vollbracht ist und Nadine wider Mamas Wollen im Sitzsack das Kinderprogramm verfolgt und Kekse mampft, mache ich mit Pollie Hausaufgaben. Ich erkläre ihr die deutschen grammatikalischen Fälle, die auf einem Arbeitsblatt etwas durcheinandergepurzelt sind.
Ich fahre in DEM Urlaub,
heißt es da und wohl zum Ausgleich darunter:
Ich stehe auf DEN Auto.
„Sagt man nicht: Ich stehe auf DAS Auto?“, fragt Pollie. Sie hat die VW-Werbung mit Heidi Klum zu oft gesehen, bei der am Ende eine Männerstimme auf Deutsch brummt: „Volkswagen. DAS Auto.“ Aber ja, ein bisschen muss ich ihr beipflichten. Statt Vau-Weh sagt Pollie wie alle anderen Schweden Weh-Weh. Angesichts meiner Golf-Erfahrung liegt sie auch damit nicht unbedingt verkehrt.
Am Ende bin ich vor lauter Ursachenforschung und Erklärungsnot so verwirrt, dass ich wie ein Stockholm-Anfänger vergesse, dass für die t-bana Linksverkehr gilt – wie es bis1967 auch für den Straßenverkehr der Fall war. Ich nehme die falsche Bahn und merke es erst, als schon die südlichen Vororte oberirdisch an mir vorbeiziehen.
„Das war Instinkt“, psychologisiert Caro herum, als ich viel zu spät zum Essen in die WG komme und Darwin in der Zwischenzeit im Topf mit dem Milchreis unterwegs war. Schleimige Schlieren am Backofen und glitschige Pfotenabdrücke in Caros frischer Wäsche führen mir das Debakel vor Augen. Seit der Aktion war nichts mehr von ihm zu sehen.
„Tolle Wurst, echt! Ich bin mir nicht sicher, ob Darwin kapiert, dass man sich anpassen muss, um zu überleben.“ Ich muss
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