Ein Jahr in Stockholm
Herren mit Koteletten und Pomadenfrisur, die sich in Chevrolets, Buicks und Thunderbirds in Kolonne und Zeitlupe durch die Gegend schieben. Deplatziert wie Geisterfahrer wirken da wir in Maries praktischem Familienkombi, mit dem wir einen Ausflug unternehmen. Wer hinaus will in die Natur, muss nur dummerweise erst durch die unansehnliche Industriestadt ohne richtigen Stadtkern.
„Man arbeitet ja bloß in den grauen Blocks und besorgt die wichtigsten Sachen in den Einkaufszentren“, entschuldigt sich Marie: „Dafür macht man es sich zu Hause umso schöner. Die Städte in Schweden sind meistens kein Erlebnis, wenn man nicht gerade in den Metropolen lebt.“ – „Wo wir wohnen, kennt man nur eine Metropole“, merkt Caro mit scherzhaftem Unterton, aber durchaus ernst gemeint an.
Die Stockholmer bewerben ihre Stadt selbstbewusst als „The Capital Of Scandinavia“ und empfinden den Rest Schwedens als hinterwäldlerisch. Nicht einmal Göteborg, „Jöteborje“ gesprochen, der zweitgrößte Ort im Königreich, wird von ihnen als vollwertiges Pendant an der Westküste akzeptiert. An diesem Tag hatte ich begriffen, warum. Zwar macht die von den Niederländern angelegte Stadt einen sehr ansprechenden Eindruck; nette Einkaufsstraßen ziehen sich um herrlich angelegte Parks. Allerdings umrunde ich das Zentrum von „Lilla London“, des selbsternannten Klein-Londons, für meinen Geschmack zu schnell. Wobei „umrunden“ es auch nichttrifft, denn die Altstadt ist viel zu rechteckig und durchdacht, um charmant zu sein. Leider sind die meisten Grachten zugeschüttet, und ich vermisse neben dem Kulturangebot vor allem das Wasser in der Stadt.
„Stockholmer sind ja auch arrogante Esel“, entgegnet Marie, als sie auf ein Seegrundstück einbiegt, wo mehrere Gruppen an Lagerfeuern grillen. „Wie die schon reden, mit dieser unerträglichen Quäkstimme! Wie Enten, die gequält werden. Und so schnell, als müssten die feinen Gockel gleich wieder auf ihren Misthaufen, um sich zu präsentieren.“
Was denn nun? Esel, Enten, Gockel? Äh! Die Landeier haben doch keine Ahnung von den 08ern, wie Stockholmer entsprechend ihrer Vorwahl im Volksmund genannt werden. Und wie ich gerade begreife, bin ich inzwischen eine von ihnen. Lars wäre stolz auf mich.
Wir bestellen uns schwedische Pizza an den See. Sie wird mit einem Berg von Krabben und Extra-Mayonnaise geliefert, was in Caros und meinem Fall den Hund freut. Dennoch ist der Abend ganz nach unserem Geschmack. Wir genießen die Sonne im gelobten Land.
28 Stunden später, am 16., wird Tova geboren. Caro und ich stoßen auf unserem Balkon dreihundert Kilometer weiter östlich mit badischem Riesling darauf an und sind froh, dass Maries und Davids Kind kein Junge geworden ist. Er hätte Albin Bertilsson geheißen, fast analog zu unserem Onkel Bertil, Bertil Albertsson.
Auch unser Warten hat sich gelohnt: Die Welt in der Hauptstadt ist wieder in Ordnung. Den Streikenden wurde nachgegeben, und die SL , Stockholms öffentlicher Nahverkehr, schafft uns ohne Probleme zu allen möglichen Ecken der Stadt. Das Inselhüpfen hat mir gefehlt.
Diesmal treffen wir uns zum Feierabend auf den Klippen von Södermalm. Mit dieser Idee sind wir nicht die Einzigen.Immer mehr Leute drängen sich auf die Felsen über München Bryggeriet , einer ehemaligen Brauerei, die mittlerweile private Radiosender beherbergt. Vis-à-vis spiegelt sich matt das stadshuset in Mälarens Wasser. Weiter rechts hangeln sich Sportkletterer wie Spinnenmenschen über einen steilen Felsvorsprung. Hier oben bläst uns teils derart klamme Luft über die Haut, dass mir Schauer über den Rücken laufen. Zum Glück aber wärmen die Steine unsere Hinterteile wie Warmhalteplatten einen Elchbraten.
Elins Schicht im Krankenhaus ist vorüber. Ich entdecke sie unten auf dem Söder Mälarstrand . An der Leine trottet der kleine Qimmiq, der sie nach einem Pfiff von Lars zielsicher wie ein Blindenhund an allen Hindernissen, Grillwürsten und Häufchen von Stockholmern vorbei zu uns herauflotst. Frauchen hat einen Bastkorb dabei, um sich bei Käse, Wein und Lachs stilgemäß bis September aufs flache Land zu verabschieden. Elin also auch. Allerdings gönne ich ihr eine Auszeit. Die zusätzliche Arbeit wegen Ärztemangels in den vergangenen Wochen hat ihr sichtlich zugesetzt.
„Värmland und meine Eltern werden nicht viel von mir haben, fürchte ich“, seufzt sie, während sie den Pinot Grigio in Sektgläser füllt. „Die Enge der
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