Ein Jahr in Stockholm
Punkt war selbst unsere Vermieterin einmal ganz Schwedin. Wir vertrauten ihr, dass sie in unserer Abwesenheit nicht plötzlich die Wohnung räumte. Sie vertraute uns, dass wir monatlich mit der Miete an der Tür standen. Wir konnten folglich über Nacht türmen. Da aber ein paar Quadratmeter in Östermalm weggingen wie in Schweden die Hotdogs, war ihr Risiko sehr gering. Was also wollte sie bloß?
Bei genauer Betrachtung stellten sich die Paragraphen als Testament heraus. Wir sollten als unabhängige Zeugen unterschreiben, dass Gunilla ihr Ziehkind Ida – die Fischköchin aus dem Dalarna-Sommerhaus – enterbt, weil sie diese kürzlich beim Koksschnupfen erwischt hatte. Puh! Ich fühlte mich unwohl und hoffte, Caro würde die Passagen im Text verstehen, mit denen ich meine Probleme hatte. Aber was waren meine Problemchen gegen den „Schmerz einer Drogenmutter“, wie ihn Gunilla zu verkraften hatte? Ich erlebte die reservierte Frau das erste Mal mit feuchten Augen.Was Ida anging, hatte sich ihr Vertrauen als naiv herausgestellt. Ich setzte hektisch meinen Namen auf das Schriftstück. Caro ging es genauso.
Punkt Nummer zwei, der Gunilla an diesem Abend auf dem Herzen lag: Sie hatte niemanden, der sich um ihre Katzen kümmerte, während sie sich erholen musste. Ob wir vielleicht ...? Wir hatten die Tierchen nie zu Gesicht bekommen, doch Gunilla versicherte uns, sie seien sehr pflegeleicht und könnten keiner Fliege etwas zuleide tun. An dem Abend wollten wir ihr nun wirklich keine Bitte abschlagen. Sie vertraute uns, und wir waren so leichtfertig und vertrauten ihr.
Einen Tag später wohnten also zwei Katzen in der WG. Auf einer Haftnotiz über der Spüle hatte Gunilla eine dringliche Information hinterlassen:
Niemals Tür zum Balkon aufmachen!!! Verbot!!! Der kleine Darwin springt gern über Geländer. Unten ist er tot!!! Danke dafür.
Gut, dass Caro und ich Getier aller Art lieben und für zwei Wochen Katzenbeaufsichtigung einen Mietnachlass erhalten. Das Dumme an der Sache aber ist: Draußen hat es dreißig Grad, in der geschlossenen Wohnung dank Luftentfeuchter immer noch um die sechzig. Wir schlafen praktisch im Tropenhaus. Und: Die Katzen sind keine Hauskatzen, sie sind Kampftiger, die mir bis an die Kniekehlen reichen, dabei aber die wackelige Statur von Twiggy haben. So wie Linnéa keine Nase, sondern nur Löcher hat, haben die Katzen keine Augen, sondern Schlitze, aus denen Eiter quillt. Die Nasen sind dafür bullig wie bei einem Staffordshireterrier. Wie Caro gebe ich mir Mühe, den Ekel zu überwinden, der mich bei ihrem Anblick überfällt. Ich zeige mich von meiner besten Seite. Von den Tieren kann man selbiges nicht behaupten.
Mit Lars sehe ich ein Video von Mittsommer, auf dem Onkel Bertil gerade seinen selbstgebrannten Himbeergeist anzapftund großzügig verkostet. Als Zeichen des vollendeten Geschmacks imitiert er nach jedem Schluck einen jaulenden Hund. Das hat Darwin neugierig gemacht. Noch von der Türschwelle meines Zimmers aus zischt er uns an. Dann trabt er lammfromm herüber, hüpft aufs Bett und drängt sich schnurrend auf meinen Schoß. Ich kraule ihn zwischen den Ohren, wie es Gunilla empfohlen hat. Ich weiß nicht, was es ist, das ihn nach dreizehn weiteren Minuten Filmmaterial veranlasst durchzudrehen. Jedenfalls fährt er seine Vampirzähne aus, hängt sich mit dem Oberkiefer an meinem Handrücken ein und reißt mir genüsslich zwei Fleischwunden quer über die Pulsadern. Dann springt er Lars ins Gesicht. Bevor ich dazu komme zu toben, hat er die Kaffeetassen zu Boden geworfen, ist aus dem Zimmer gestürmt und hat sich unter Linnéas Bett verkrochen, wo er zwei Tage lang ohne Futter ausharrt.
Obwohl Elin unsere Wunden desinfiziert, sieht Lars wieder aus wie Gorbatschow, und ich erwecke das restliche Jahr den Eindruck, ich hätte mich umbringen wollen. Auch eine Woche später in der t-bana ernte ich verstörte und mitleidige Blicke. Zum Trost gönne ich mir am Medborgarplatsen eine tunnbrödsrulle , bevor ich Nadine von der Vorschule abhole. Dieses zusammengerollte Fladenbrot, in dem zwei süßliche Würste in einer Ladung Senf, Ketchup und Kartoffelpüree schwimmen und erstklassig mit Röstzwiebeln und Essiggurken abgeschmeckt sind, ist die schwedische Antwort auf Döner Kebab.
Statt der in anderen europäischen Hauptstädten allgegenwärtigen Knoblauch-Buden und Fastfood-Ketten säumen hier die gatukök genannten Hotdog-Stände die Straßenränder. Oft tragen die südländisch
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