Ein Jahr in Stockholm
Flüsterpost unter neun Millionen: Da bleibt kein Schnörkel, woran man sich schmirgeln könnte. Das Dekor ist schlicht, keinSchnickschnack, die Funktion definiert die Form. Bauhaus grüßt aus Schweden.
Was Ikea billig und weniger kreativ nachahmt, stammt aus den Möbelfirmen, die oftmals in der Nähe des Bahnhofs zu finden sind und fabulöse Wohnideen produzieren. Was wäre mein Zimmer ohne den Stuhl von Gärsnäs , die Lampe von Källemo und den Kleiderständer von Nola ? Aber allein schon, wenn die typischen Arla -Milchtüten, die Tomatensuppe oder Absolut-Vodka- Flaschen auf dem Tisch stehen, verkörpern Frühstück, Mittag- und Abendessen (variable Reihenfolge) reinste Pop-Art.
Am Abend sitze ich mit einer Menge Einkaufstüten auf einem Steg bei Munkbroleden auf Stadsholmen. Der Wind spielt mit meinem Haar, und wenn er Pause macht, legen sich die Sonnenstrahlen wie heiße Hände auf meine Wangen. In meinem Rücken rattern die Schnellzüge über die Gleise, und kurz bevor eine t-bana in die Station einfährt, erklingt eine Terz, zwei Töne knapp hintereinander, erst tief, dann hell. Ein vertrautes kleines Lied.
Ich blicke abwechselnd aufs Wasser und auf Gamla stan. Ich sehe mein grünblaues Spiegelbild auf dem flach atmenden Riddarfjärden und an Land zimtfarbene Gebäude. Blasse kleine Fische und märchenhafte Türme auf Häusern in Vanille. Die Lunge und das Herz der Stadt.
Hier hat sie begonnen, hier hat die Sache mit Lars begonnen, und hier hat auch meine Liebe zu Stockholm begonnen, dort drüben in den schmalen, stark steigenden oder steil fallenden krummen Altstadtgassen, in denen man im Wintermatsch ausrutscht und sich im Dreck der Regenrinnen abstützt. Die Gassen, in denen man jedes Mal einen neuen Laden entdeckt, der sich lohnt. Stockholm ist, wo einen die Fassaden von Gamla stan mit ihren warmen Farben umarmen und einen der Sog des Wassers irgendwann nicht mehr gehen lässt.
Da sitze ich und sinne über meine Liebe zu Stockholm nach, der von Deutschen erbauten „kleinen Insel auf Baumstämmen“. Denke an meine verregneten, stolperhaften ersten Schritte, an mein anfängliches Urteil vom Balkon an der Skeppargatan. Und an jetzt und das Gespür, richtig zu sein. Sitze so nah am Wasser und bin mit einem Mal zutiefst gerührt. Drama, baby! Aber meine Güte, was ist diese Stadt schön.
In den folgenden fünfzehn Tagen beherberge ich in sechs sich teils überschneidenden Besuchseinheiten siebzehn Menschen und einen Chihuahua. Feiere zwei Geburtstage, unter anderem den 60. meiner Mutter. Gehe neunmal im restaurang essen, besuche sechs verschiedene Museen, eins davon (das Freilichtmuseum Skansen mit den Rentieren und Elchen) allein viermal. Betrete zwei Clubs, elf Kneipen und drei Kinosäle. Fahre viermal nach Vaxholm, zweimal nach Uppsala und unterschreibe fünfzig bis sechzig Postkarten. Spätestens alle vier Tage wasche ich zweimal zwei Trommeln Bettwäsche und Handtücher und belade den Wandschrank im Flur nach einem zwischenzeitlichen Defizit randvoll mit Klopapier. Doch ich bin glücklich – und siebzehn andere mit mir.
Als Erste finden zwei Freundinnen aus Freiburg den Weg in den hohen Norden. Mit ihnen gerate ich sogleich am Kungsträdgården in eine wie immer leicht chaotische Wachablösung, für die sich ein Reitertrupp und die lustig hopsende Garde mit ihren Pickelhauben durch den Mittagsverkehr schieben und meinem Besuch gelebtes Ta-det-lungt vorführen.
Es dauert daher ein wenig, bis wir auf den Hötorget gelangen, den Heumarkt, wo wir eine Pause und einen Imbiss einlegen. Unter einem Schwung Stockholmer, die bei einem smörgås (einer Schmiergans genannten Stulle) Mittag machen,lassen wir uns auf der Freitreppe nieder. Im türkisfarbenen konserthuset in unserem Rücken werden im Winter die Nobelpreise verliehen. Gegenüber stürmen kaufwütige Teenager das Warenhaus PUB, wo Greta Garbo in den Zwanzigerjahren die Männerwelt bereits als Kassenfräulein bezirzte. An den Blumen-, Obst- und Gemüseständen dazwischen überschlagen sich die Stimmen der Marktschreier, die die Melonen derart günstig anpreisen, dass ich kurzzeitig das Gefühl habe, ich befände mich auf einem türkischen Basar.
„Gibt’s ja gar nicht: Hier ist Kinderkriegen noch mehr in Mode als in Freiburg“, stellt Clara fest, wie wir so ins Gemisch der Altersgruppen und Kulturen blicken, an dem Ethnologen ihre Freude hätten.
Tatsächlich ist der Schwangerschaftsbauch überall. Gerade jetzt, im ohnehin
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