Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Stimme. Angenehm und lieblich. Sie erinnert mich an Vogelzwitschern – aber es ist keine Stimme von jemandem aus Julis Familie.
»Ich bin’s«, rufe ich etwas verunsichert zurück. »Jenny.«
»Welche Jenny?«, zwitschert die Stimme zurück.
»Jenny! Ähm … wollt ihr mich nicht reinlassen?«, frage ich, noch mehr verunsichert. Wessen Stimme ist das?
Die Tür geht auf. Eine Frau, die ich noch nie im Leben gesehen habe, hat die Hand auf der Klinke. Sie ist ungefähr um die fünfzig und hat das Haar, das schon grau wird, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt ein langes, fließendes rotes Kleid und goldene Flipflops. Sie lächelt mir zu. »Kann ich dir helfen, Liebes?«, fragt sie.
»Wer sind Sie?«, stoße ich hervor, trete zurück und überprüfe die Tür. Apartment 110. Julis Apartment.
»Wer bist du ?«, entgegnet die Frau.
»Julis Freundin.«
»Julis Freundin? Was soll das heißen?«
»Den Eltern von meiner Freundin gehört dieses Apartment.«
»Ich fürchte, das stimmt nicht. Das ist mein Apartment. Du musst dich geirrt haben. Tut mir leid.« Sie lächelte freundlich und will die Tür schließen.
»Warten Sie!« Die Frau zögert und lässt die Tür gerade so weit offen, dass ich ihre Augen sehen kann. »Haben Sie auch bestimmt die richtige Woche gebucht?«, frage ich. »Meinen Freunden gehört es in Woche 27. Reisen Sie gerade ab?« Meine Fragen klingen wirr, sogar in meinen eigenen Ohren. Selbst wenn sie jetzt im Begriff wäre, abzureisen! Die Leonards sind doch schon angekommen! Gestern Abend. »Wohnen Sie bei ihnen?«, frage ich und zerbreche mir den Kopf, wer die Frau wohl sein kann. Julis Großmutter kenne ich. Die ist es nicht. Eine Freundin der Familie?
»Ich habe es dir doch gesagt, Liebes«, erwidert die Frau, »das hier ist mein Apartment, meine Woche. Ich bin gestern angekommen; von deiner Freundin weiß ich nichts.« Sie lächelt wieder, diesmal etwas unverbindlicher. »Wie gesagt, es tut mir sehr leid, dass ich dir nicht helfen kann. So, wenn du jetzt so gut sein willst, dann könnte ich nämlich mit meiner Handarbeit weitermachen. Oder ist noch was?«
»Ich …«
Die Frau wartet einen Moment.
»Na gut«, sagt sie schließlich. »Ich gehe jetzt wieder rein. Tut mir wirklich leid, Liebes. Ich hoffe, du findest deine Freundin.« Und damit schließt sie die Tür.
Ich starre die Nummer an. 110. Ich fahre jede Ziffer mit den Fingern nach. Eins, eins, null. Es ist ihr Apartment. Verliere ich den Verstand?
Schließlich mache ich kehrt, um nach Hause zu gehen. Blind tappe ich den Gang entlang, völlig aufgewühlt. Der alte Fahrstuhl steht mit geöffneter Tür da und wartet auf mich. Ganz benommen trete ich ein, lass die schwere Tür hinter mir zufallen, zieh das Gitter zu und drücke den Knopf fürs Erdgeschoss. Den ganzen Heimweg über lasse ich mir das, was gerade passiert ist, durch den Kopf gehen und grübele, um irgendeine Erklärung zu finden. Ich muss am falschen Apartment gewesen sein. Vielleicht haben sie gewechselt, ohne mir was zu sagen. So muss es sein. Oder ich bin aus Versehen auf dem falschen Stock gewesen.
Als ich zu Hause ankomme, habe ich mich so gut wie überzeugt, dass es alles mein eigener dummer Fehler war. Nur keine Aufregung. Ich werde nicht verrückt. Es wird eine einfache Erklärung geben. Es muss eine einfache Erklärung geben.
4
Dad sitzt vornübergebeugt am Wohnzimmertisch und schreibt. »Juli hat nach dir gesucht«, sagt er, ohne aufzusehen.
»Was? Sie war hier?«
»Du hast sie gerade verpasst. Ist vor fünf Minuten gegangen. Oder vielleicht vor zehn. Sie hat gesagt, dass sie überall nach dir gesucht hat. Hör zu, was hältst du davon? ›Der Fluss stürzte brausend den Berg hinunter, so wild, als ob er es eilig hätte.‹« Er sieht auf. »Der Anfang von meinem Roman.«
»Klingt toll, Dad. Ich dachte, du hättest deinen Roman schon längst angefangen.«
Dad beugt sich wieder über sein Notizbuch. »Ich fange einen anderen an. Habe gerade einen neuen Einfall. Liegt an dem Ort hier. Inspiriert mich. Wir sollten öfter herkommen.«
Ich hole mir ein Glas Orangensaft aus dem Kühlschrank. »Hat Juli gesagt, wo sie hingeht?«
»Zurück zu ihrem Apartment.«
»Zurück ins Apartment?«
»Das hat sie gesagt.«
»Und sie ist vor zehn Minuten gegangen?« Ich trinke meinen Saft.
»Richtig.«
»Dad, haben sie ihr Apartment getauscht?« Ich war doch vor weniger als zehn Minuten bei ihr – und sie war nicht dort. Ich muss eine falsche Wohnung
Weitere Kostenlose Bücher