Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Dann spricht sie mit betont geheimnisvoller Stimme weiter. »Hey«, sagt sie und deutet auf den Boden, »ich bin sicher, dass da gerade noch ein Schuh lag. Ist das nicht rätselhaft?«
Ich lache und schubse sie aufs Bett. »Nein, im Ernst. Es war eindeutig mehr«, sage ich. »Wo warst du überall?«
Juli zuckt mit den Schultern. »Am See, am Wehr, zu Hause – überall habe ich nach dir gesucht.«
Dieselben Stellen, an denen ich war. Wie können wir uns überall verpasst haben?
»Juli.«
Sie greift unter das Bett und fingert an dem Arm von einem der Roboter herum, die Craig liegen gelassen hat. Der Arm geht ab. »Was?«
»Es war so merkwürdig. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«
»Ha, guuut!« Juli legt den Roboter weg und schlägt die Beine übereinander. »Na los. Erzähl mir mehr.«
»Nur, wenn du versprichst, dich nicht über mich lustig zu machen.«
Sie macht ein todernstes Gesicht. »Versprochen«, sagt sie feierlich.
Da erzähle ich ihr von meinem Besuch beim Apartment, von der Frau in dem fließenden Kleid und davon, dass ich weit und breit keinen aus ihrer Familie gesehen habe.
»Cool!«, sagt sie. »Dann bin ich anscheinend unsichtbar geworden!«
»Ich meine es ernst!«
» Ich auch. Was kann es sonst für eine Erklärung geben?«
»Juli, glaubst du wirklich, dass du unsichtbar geworden bist?«
»Warum nicht? Wenn man Leute klonen kann und jemand herauszufinden vermag, dass sein ganzes Leben eine Fernsehshow ist, was spricht dann dagegen, dass man auch in der Lage ist, unsichtbar zu werden?«
»Juli, das sind doch alles erfundene Geschichten!«
»Und deine?«
Ich hebe einen Legostein vom Boden auf und werfe ihn auf Craigs Bett. Warum kann er nie aufräumen? »Wie kommt es dann, dass Dad dich sehen konnte?«, frage ich. »Und was ist mit der Frau in der Wohnung? Und wo war euer Auto?«
»Hab ich doch gesagt. Den ganzen Morgen dort«, sagt Juli. »Bist du auch wirklich in den richtigen Trakt gegangen?«
»Block C, 110. Letzte Wohnung im ersten Stock.«
»Stimmt, das sind wir.« Juli springt vom Bett und rennt wieder ans offene Fenster. Es hat zu regnen angefangen, dicke Tropfen zerschellen träge auf der Fensterbank. Sie schließt das Fenster, bleibt stehen und sieht hinaus. »Okay, ich kann es auch nicht erklären«, sagt sie schließlich.
»Ich muss mich getäuscht haben«, sage ich. »Hab vielleicht einen Blackout gehabt. Bestimmt. Ich war beim falschen Apartment, ich bin mir jetzt sicher.« Ich weiß nicht, wen ich mehr davon überzeugen will – Juli oder mich selbst. Juli scheint meine Folgerung zufrieden hinzunehmen – und nicht zu bemerken, dass ich selbst nicht ganz so sicher bin. Da ich nun mal keine bessere Erklärung habe, beschließe ich, den Teil meines Verstandes zu überhören, der meine Worte stumm zu widerlegen versucht.
»Also, dann hätten wir das ja nun«, sagt Juli und dreht sich um. »Und ich nehme an, dass wir uns wahrscheinlich ständig verpasst haben. Dann bin ich wohl doch nicht unsichtbar geworden.«
»So sieht’s aus.«
»Schade.«
»Stimmt.«
Die Haustür knallt. »Wir sind wieder da!«, ruft Mum.
Juli springt vom Bett und schaut auf ihre Uhr. »Ich muss gleich zum Mittagessen nach Hause. Komm um zwei Uhr vorbei, okay?«
»Okay.«
Im Vorübergehen streckt Juli den Kopf ins Wohnzimmer. »Hi, Mrs Green.«
»Hallo, Juli«, antwortet Mum und hängt Craigs Badetuch über die Heizung.
»Hast du auch gebadet?«, frage ich.
Mum lächelt und klopft sich auf den Bauch. »Mit dem hier? Ich würde im Becken doch wie ein Blauwal aussehen!«
»Wir haben Bauarbeiter mit einem Bagger gesehen, die haben mit uns geredet, und Mum hat gesagt, ich kann morgen wieder hin und ihnen bei der Arbeit zusehen, stimmt’s, Mum?«, berichtet Craig eifrig.
Mum fährt ihm durch die nassen Haare. »Ja, Schätzchen.«
»Okay, Leute, wir sehen uns später, ja?«, sagt Juli und wirft einen Blick auf die Uhr. »Ich muss los.«
Ich bringe sie zur Tür. »Bis später!«, sagt sie. Dann tänzelt sie die Einfahrt entlang. Kurz bevor sie abbiegt, winkt sie und wirft mir die übliche übertriebene Kusshand zu. »Wir fahren um Punkt zwei«, ruft sie. »Komm nicht zu spät.«
»Bestimmt nicht.«
»Wohnung 110!«
»Ja, keine Sorge. Ich komme diesmal zum richtigen Ort«, sage ich mit einen gezwungenen Lachen.
Als sie außer Sicht ist, gehe ich wieder ins Haus und schließe hinter mir die Tür.
»Jenny, hilf Mum und decke doch bitte mal den Tisch«, sagt Dad. Er sitzt
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