Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
immer noch an seinem Platz.
»Dann musst du dich verziehen.«
»Gleich. Ich kann nicht aufhören, wenn es gerade läuft. Du hast doch von dem Mann aus Porlock gehört, oder?«
»Ja, Dad. Wir alle haben von dem Mann aus Porlock gehört.«
Die Geschichte erzählt er uns einmal pro Woche. Irgend so ein Typ hat ein Gedicht oder so was geschrieben und ist von jemandem unterbrochen worden, der an der Tür war: dem Mann aus Porlock. Und damit war es dann aus. Seine Eingebung war futsch, und er hat das Gedicht nie zu Ende geschrieben. Es wäre ein geniales Meisterwerk geworden, und er hat es nicht beenden können. Tolle Geschichte. Und sozusagen Dads Ausrede, um im Haushalt nicht helfen zu müssen.
»Okay, Essen ist fertig.« Mum bringt ein Brett mit belegten Broten herein, und ich hole die Teller.
Dad beugt sich vor, um sie zu küssen. Sie legt ihm die Hand auf den Hinterkopf und zieht ihn zu sich. Als sie sich wieder auseinander bewegen, lächeln sie sich an. Dad küsst sie auf die Wange. »Fünfzehn Jahre. Wer hätte das gedacht, Mrs Green?«, sagt er.
Mum lächelt, bückt sich und legt ihm den Kopf auf die Schulter. Dann steht Dad auf und räumt seine Unterlagen weg. »Komm, Craig.« Craig sitzt schon wieder vor dem Fernseher. »Mittagessen.«
Normalität. Dem Himmel sei Dank dafür. Einen Augenblick vergesse ich all die seltsamen Vorkommnisse und kann mir fast einreden, dass sie gar nicht passiert sind. Das Leben ist wieder ruhig und friedlich, wie es sein soll. Wie es immer ist. Der normale, berechenbare Haushalt der Greens – so, wie wir es gerne mögen.
Als ich Julis Trakt betrete, steht der alte Fahrstuhl wieder offen. Ich bin sicher, dass ich ihn hinter mir zugemacht hatte. Es ist, als ob er mich kommen gesehen und extra aufgemacht hat!
Der andere kommt wieder nicht, als ich ihn holen will, deshalb nehme ich den alten und fahre in den ersten Stock. Mit einem ganz leisen Beben stehe ich vor Apartment 110 und starre die Tür an. 110. Eindeutig Julis Apartment! Ich streiche meine Kleider glatt. Mein Top fühlt sich so eng an. Vielleicht hätte ich zu den belegten Broten nicht auch noch eine ganze Tüte Chips essen sollen.
Ich klopfe an.
»Wer ist da?«
O nein! Die Frau wieder! Das darf doch nicht wahr sein! Es ist die richtige Wohnung; ich habe es doch mehrmals überprüft. Was geht hier vor sich?
Die Tür geht einen Spalt auf.
»Es tut mir leid, ich …«
Ganz kurz starrt mich die Frau verständnislos an, dann erkennt sie mich. »Du schon wieder«, sagt sie leise. »Was willst du diesmal von mir?« Sie ist nicht so freundlich wie letztes Mal. Ihre Stimme hat eine gewisse Schärfe, die einfach nur Verärgerung sein könnte, aber fast verstört klingt.
»Ich suche nur wieder nach Juli«, sage ich.
»Was soll das heißen, du suchst nach Juli? Wie verliert man denn einen Monat?«
Bei ihren Worten weicht auf einmal die ganze Farbe aus ihrem Gesicht. Sie schiebt die Tür noch etwas mehr zu. Groß und erschrocken sehen ihre Augen in ihrem plötzlich so grauen Gesicht aus. Als sie wieder redet, ist es, als ob sie durch mich hindurchschaut und mit einem Geist spricht.
»Du versuchst mich wohl zum Narren zu halten, stimmt’s?«, sagt sie. »Du weißt Bescheid! Aber woher? Das ist unmöglich. Keiner weiß es – keiner hat es je mitbekommen. Nur ich. Nur ich weiß, dass etwas verlorenging.«
Wovon redet sie? »Ich – ich weiß nicht, was Sie meinen«, sage ich und versuche so vernünftig und zurückhaltend wie möglich zu klingen. »Ich will wirklich nicht irgendwas Schlimmes machen, ich will nur Juli finden. Wir wollen gleich zum Reiten.«
Die Frau hat aufgehört, durch mich hindurchzustarren und scheint sich zu erinnern, dass ich vor ihr stehe. »Da, schau.« Sie streckt ihren dürren Arm durch den Türspalt und deutet auf die Zahl an der Tür. »110. Mein Apartment. Meine Woche. Wie oft muss man dir das noch sagen?«
Ich spüre, wie meine Augen brennen. »Ich weiß nicht«, sage ich. »Ich weiß nicht, wie oft man mir das noch sagen muss. Ich weiß nur, dass das alles total unverständlich ist!«
Die Frau starrt mich an und hält meinen Blick so lange gefangen, dass ich mich abwenden will, aber irgendeine Verbindung zwischen uns scheint so stark zu sein wie ein Magnet, und ich kann keinen Muskel bewegen. »Was ist unverständlich?«, fragt sie schließlich.
»Das hier ist Julis Apartment. Da bin ich mir sicher. Die Leonards haben es seit Jahren. Ich hab Juli vor einer halben Stunde
Weitere Kostenlose Bücher