Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Porsches, nur ein paar alte Karren, in denen sie nicht mal tot gesehen werden wollten! Ich wusste es ja. Es ist fast zwanzig nach zwei. Sie sind ohne mich gefahren.
Aber als ich den Parkplatz verlasse, werfe ich noch einen Blick auf die Apartments im Erdgeschoss. Sie gehen alle auf die Straße, wie unsere, aber sie sind kleiner als unsere. Wie alles andere sehen auch sie verändert aus. Die Türen haben plötzlich eine andere Farbe! Sie waren braun; jetzt sind sie weiß. Aber das ist doch unmöglich. Sie können doch nicht über Nacht gestrichen worden sein, oder?
Mein Blick fällt auf die Nummer des letzten Apartments. 014. Das ist das, welches dem Mann zufolge den Leonards gehören soll.
Aber der hat doch gar nicht gewusst, wovon er redete, oder? Er muss wirklich geglaubt haben, dass ich von einer anderen Familie rede.
Trotzdem, ich habe ja nichts Besseres vor, nachdem ich Juli jetzt verpasst habe, also kann ich es zumindest mal versuchen.
Ich trete vor die Tür von 014 und hole tief Luft. Aus irgendeinem Grund habe ich ein nervöses Kribbeln im Bauch. Sei nicht so albern , sage ich mir. Weswegen solltest du nervös sein?
Dann klopfe ich an die Tür.
5
»Jenny. Schön dich zu sehen!«
Juli nimmt meine Hand und zieht mich in die Diele.
Zumindest glaube ich, dass es Juli ist.
Also, natürlich ist sie es, aber sie sieht so anders aus! Ihr Haar, das immer ganz verrückt und wirr absteht, ist strähnig und fettig. Es ist ungefähr zehn Zentimeter länger als am Vormittag und hängt wie ein feuchter Mopp um ihr Gesicht.
Ihre Augen haben dunkle Ringe. Sie trägt weite Jeans und ein T-Shirt, das wahrscheinlich irgendwann mal weiß war, das aber jetzt einen hässlichen Grauschleier hat – und einen Teefleck, glaube ich.
»Juli?«, sage ich zögernd. »Ist alles … in Ordnung?«
Sie bleibt in der Diele stehen. »Was meinst du?«
»Ich – dein –« Was kann ich sagen? Du siehst furchtbar aus und wann hast du eigentlich das letzte Mal deine Haare oder deine Klamotten gewaschen? Wohl kaum.
»Ach so, du meinst, dass wir hier sind?«, sagt sie.
Hier sind? Was meint sie mit hier?
»Ja, schon seltsam«, fährt sie fort. »Es ist ganz schön hart. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht so ganz, warum wir das machen. Aber Mum hat drauf bestanden. Es ist der letzte Ort, wo wir als Familie Urlaub gemacht haben – sie wollte das sozusagen begehen, verstehst du? Nicht dass ich es Urlaub nennen würde. Eher eine Quälerei. Komm, gehen wir rein und setzen uns.«
Als ich mit Juli in das Wohnzimmer dieses fremden Apartments gehe, versuche ich aus dem schlau zu werden, was sie gerade gesagt hat – was mir aber nicht gelingt. Was mich von all dem am meisten verwirrt, sind ihre letzten Worte. Setzen wir uns? Wann hat Juli sich jemals freiwillig hinsetzen wollen?
Im Wohnzimmer folge ich Juli zu den Sofas am Ende des Zimmers und sehe mich in dem unbekannten Raum um.
Ihr übliches Apartment ist eines der größten in der ganzen Anlage. Es ist hell und sonnendurchflutet und hat einen meilenweiten Blick über die Wälder und Hügel der Umgebung; die Fenster sind immer offen, und immer läuft Musik. Mrs Leonard liebt Weltmusik mit viel Getrommel, und Mr Leonard ist Jazzfan. Ständig streiten sie, wer was auflegen darf – auf jeden Fall läuft immer Musik.
Dieses Apartment ist klein und still. Die Fenster sind geschlossen. Ich muss mich bemühen, ruhig zu atmen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, weil ich in Panik gerate oder weil die Wohnung so eng und beklemmend wirkt, als ob es nicht genug Sauerstoff für beide von uns gibt. Und es ist totenstill.
»Wo sind die anderen?«, frage ich.
»Dad hockt im Pub – wo sonst. Mum ist die letzte Stunde nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Ich glaube, sie schläft«, sagt sie.
»Was ist mit Mikey?«
Juli wirft mit einen Blick zu – aber was für einen? Verärgert? Schockiert? Schmerzlich? Alles zusammen, so kommt es mir vor. Sie starrt mich wortlos an, bis ich merke, wie meine Wangen krebsrot und heiß werden.
»Was?«, frage ich.
»Jenny, das ist nicht komisch«, sagt sie leise.
»Das sollte auch gar nicht –«, fange ich an, dann breche ich ab. Sag lieber gar nichts , sage ich mir. Konzentriere dich darauf, ruhig zu atmen, dann löst sich alles gleich auf.
»Hast du Lust, einen Film anzusehen?«, fragt Juli, steht auf und kramt in einer Schublade mit DVDs neben dem Fernseher. »Wir müssen hierbleiben, damit wir da sind, wenn Mum aufsteht.«
Einen Film ansehen?
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