Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
nicht wahrgenommen habe, was um mich herum los ist?
»Wann haben sie das denn gemacht?«, frage ich und deute auf den Zaun um den Parkplatz.
Juli zuckt die Schultern. »Irgendwann im Laufe des Jahres wahrscheinlich. Er war auf einmal da, als wir angekommen sind.«
»Wo ist euer Auto? Sag bloß nicht, dass dein Vater nach seinem Pub-Besuch gefahren ist.«
Juli sucht den Parkplatz ab und deutet auf einen alten Fiesta in einer Ecke. »Da ist es doch!«, sagt sie.
Ich schlucke heftig. Das bringt das Fass zum Überlaufen. Julis Vater ist in einem alten, ramponierten Fiesta hergefahren?
»Das ist doch nicht euer Auto.« Ich klinge allerdings nicht überzeugt. Wenn sich alles andere verändert hat, warum dann nicht auch das?
»Äh, doch, schon«, sagt Juli.
»Aber der Porsche –« Die Worte bleiben mir fast im Hals stecken. »Dein Vater ist doch so versessen darauf.« Mit einem verzweifelten Versuch, irgendwo, in irgendeiner Situation Normalität zu entdecken, klammere ich mich an den letzten Hoffnungsschimmer. »Ist heute Morgen irgendwas passiert? Ist er in der Werkstatt oder so?«
Juli stößt einen Seufzer aus. »Versuchst du mich mit Absicht zu kränken, Jenny?«, fragt sie leise und geht schneller, ohne sich umzudrehen. »Dann gelingt dir das nämlich gut.«
Ich laufe ihr nach. Wir sind bei der Brücke, lehnen uns über die Brüstung und schauen in den Fluss. »Nein, überhaupt nicht! Ehrlich. Ich weiß einfach –«
Juli dreht sich um und starrt mich an. »Jenny, er hat ihn verkauft«, sagt sie. »Du warst an dem Tag bei mir, als sie ihn abgeholt haben. Kannst du dich im Ernst nicht mehr daran erinnern?«
Ich schüttle den Kopf und presse die Lippen aufeinander. Wage nicht, etwas zu sagen. Wage kaum, zu atmen.
»Jen, ich glaube, dass dir was Ernsthaftes zugestoßen ist«, sagt sie. Endlich.
»Ich weiß. Etwas ganz Schlimmes ist passiert. Ich weiß nur nicht, was.«
»Ich glaube, du leidest unter Amnesie – Gedächtnisverlust. Weißt du, wir haben in dem vergangenen Jahr mit vielen Ärzten gesprochen, und sie haben uns alles über die unterschiedlichen Bewältigungsarten erzählt. Vielleicht ist das deine Art?«
Ich beiße mir auf die Lippe, um die Tränen zu unterdrücken, die mir in den Augen brennen. »Juli, was war mit dem Porsche?«, frage ich. »Wenn du es mir erzählst, kommt meine Erinnerung vielleicht zurück.«
Juli beugt sich erneut über das Geländer und starrt in den Fluss, der unter uns dahinplätschert und blubbert, als ob nichts wäre. Sie dreht sich wieder zu mir. »Du erinnerst dich ehrlich nicht?«, fragt sie.
»Ganz ehrlich. Erzähl mir, was passiert ist.«
»Es war eine der schlimmsten Wochen«, fängt sie an, dann lacht sie. Ein bitteres, gebrochenes Lachen ohne Fröhlichkeit. »Obwohl es ja viele davon gab. An dem Montag bekam Mum einen Brief von der Galerie mit der Kündigung.«
»Warum?«
»Sie hatte sich zu oft freigenommen, um ins Krankenhaus zu gehen. Die ersten Monate hatte sie mehr oder weniger von morgens bis abends an Mikeys Bett verbracht. Zuerst waren sie in der Galerie einigermaßen verständnisvoll, aber dann haben sie gesagt, sie könnten sich das nicht leisten, ihr Gehalt und dazu noch die Bezahlung für eine Vertretung. Daher dankten sie ihr für ihre jahrelange Arbeit, zahlten ihr noch eine Abfindung von sechs Monatsgehältern und sagten, sie müssten sie gehen lassen.«
»So mir nichts, dir nichts?«
»Einfach so. Dabei hatte sie die Galerie aus dem Nichts aufgebaut.«
»Ich weiß.« Julis Eltern waren sehr stolz auf diese Geschichte. Ihre Mutter war geholt worden, um eine kleine Kunstgalerie, die ums Überleben kämpfte, zu leiten, und hatte daraus ein bedeutendes Ausstellungszentrum gemacht, in dem berühmte Werke aus aller Welt verkauft wurden – einschließlich der Bilder von Julis Vater. »Und die Sachen von deinem Vater?«
»Das kam dann am Dienstag. Seine nächste Ausstellung wurde abgesagt. Er hatte das ganze Jahr nichts mehr gemalt, wie sollte er also zwanzig neue Werke liefern? Wir wussten alle, dass es so kommen musste.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Ich komme mir so hilflos und nutzlos vor.
»Und am Mittwoch haben wir dann das Auto verkauft und das schicke Ferienapartment hier. Drei Tage, in denen eine Abrissbirne unser Leben zerstört hat.«
Ich stütze mich auf die Ellbogen und bedecke mein Gesicht mit den Händen. Wo war ich, als das alles passiert ist? Warum kann ich mich nicht erinnern?
»Wir haben erst letzten
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