Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
meine Worte verschlingen und mich kopfüber ausspucken. Vielleicht verschwinde ich auch. Der Boden tut sich auf, und ich versinke allmählich, falle ins Nichts. Als ob mich das Leben verlässt.
Ich hole tief Luft und atme in meine Handflächen aus. »Juli, etwas sehr Seltsames ist geschehen.«
»Was?«
»Als ich dich zuletzt gesehen habe …«
»Vorgestern?«
Ich schließe die Augen. »Heute Morgen.«
»Ich habe dich heute Morgen aber nicht gesehen.«
»Doch, das hast du! Hör mir bitte mal zu, okay?«
»Okay«, sagt Juli schulterzuckend.
Ich hole tief Luft. »Zuletzt habe ich dich kurz vor dem Mittagessen gesehen«, sage ich und wähle meine Worte mit Bedacht. »Wir hatten vor, reiten zu gehen.« Juli setzt zu einem Einwand an, und ich spreche schnell weiter, ehe sie mich unterbrechen kann. »Du hast noch gesagt, ich solle pünktlich sein. Aber ich bin zu spät gekommen. Ich konnte dich nicht finden. Du warst nicht in eurem Apartment. Ein Mann hat mir geraten, es hier zu versuchen. Das habe ich gemacht, und jetzt bin ich hier und verstehe überhaupt nichts mehr.« Ich sehe Juli an. Sie starrt mich verständnislos an, als sei ihr Gesicht eine Maske mit nichts dahinter. Meine Stimme wird lauter, angespannter und schärfer, obwohl ich mich bemühe, ruhig zu bleiben. »Ich weiß nicht, was mit mir passiert.« Eine Träne quillt mir aus dem Auge und läuft mir über die Wange. »Ich glaube, ich werde womöglich verrückt.«
Juli kommt einen Schritt näher und legt die Arme um mich. »Na, na, komm schon, alles wird gut«, sagt sie. »Es ist alles okay, wir finden es heraus.«
»Wie sollen wir es herausfinden?«, jammere ich. Die Tränen laufen mir jetzt ungehindert übers Gesicht. »Du verstehst nicht. Ich habe den Verstand verloren. Wie kann alles gut werden?«
Ich kann nicht mehr sprechen. Juli hält mich fest im Arm, und ich schluchze an ihrer Schulter.
Schließlich lässt das Schluchzen nach. Julis Schulter ist nass von meinen Tränen. Ich rücke ab. »Tut mir leid.«
»Ach, an so was bin ich hier gewöhnt«, sagt sie mit ironischem Lächeln.
»Darf ich mal in euer Bad?«, frage ich. »Ich will mir das Gesicht waschen.«
»Klar.« Juli deutet den Gang entlang. »Letzte Tür links.«
Im Bad reiße ich etwas Klopapier ab und schnäuze mich. Dann setze ich mich auf den Rand der Badewanne, um meine Gedanken zu sammeln. Aber es geht nicht. Sie sind zu verworren und durcheinander und nichts passt zu nichts, wie ein Schubfach voll mit Socken, die nicht zusammengehören.
Ich stehe auf und gehe an den Wasserhahn. Schönes kaltes Wasser. Ich halte die hohlen Hände unter den Strahl und sehe in den Spiegel.
Entsetzen ergreift mich.
Ich halte mich am Waschbecken fest und mache mich dabei vorne ganz nass.
Das kann nicht sein.
Im Spiegel sehe ich, wie meine Finger mein Gesicht berühren. Das bin ich. Aber ich bin es auch nicht. Nicht so, wie ich mich in Erinnerung habe. Ich habe die gleichen Sachen an. Mein neues blaues T-Shirt, auf dem Schmuckstück steht. Meine Khakishorts. Plötzlich merke ich, dass die Sachen enger sind als üblich. Vor lauter Aufregung ist mir das noch nicht mal aufgefallen. Und mein Haar – was ist damit passiert? Es ist kurz! Zu kurz, um es hinten zusammenzubinden. Ist mir auch nicht aufgefallen. Warum? Und warum hat Juli nichts dazu gesagt?
Ich fasse mir in die Haare. Leicht gleiten meine Finger durch die kurzen Locken. Ich greife nach hinten. Das Haar ist glatt und dünn, Strähnen kitzeln mich am Nacken.
»Alles klar da drin, Jen?«, ruft Juli durch die Tür.
Ich versuche, zu antworten. Bringe aber nichts heraus. Ich kann mich nicht von meinem Spiegelbild losreißen.
»Jen? Alles in Ordnung?«
Ich bringe eine Art Würgegeräusch hervor. Das ist alles, was ich schaffe.
»Jenny, ich komme rein, okay?«
Als sie die Tür öffnet, reiße ich mich von meinem Spiegelbild los und sehe sie an. Ich deute darauf. Auf den Spiegel; auf das lügende, trügerische Glas. Auf das tränenüberströmte Gesicht.
Das Gesicht, das unbestreitbar ein Jahr älter ist als heute Morgen.
6
»Was ist denn los, Jenny? Was ist passiert?«
»Was passiert ist?«, keuche ich. »Sieh doch!« Ich deute mit dem Finger auf den Spiegel.
Juli sieht den Spiegel an. »Was ist denn damit?«
»Nicht der Spiegel !«, schreie ich. »Ich! Sieh mich an!«
Juli nimmt meine Hand und fängt mit der ruhigen Art zu reden an, die sie seit heute hat und mit der ich sie noch nie im Leben habe sprechen hören. »Komm
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