Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Aber es kommt mir alles so seltsam vor. Ich kann den heutigen Morgen so deutlich erinnern.«
»Aber es war nicht heute Morgen«, beharrt Juli.
»Siehst du, sogar du«, sage ich.
»Sogar ich was ?«
Ich zögere. Ich will sie nicht kränken. »Du hast dich verändert«, sage ich vorsichtig.
»Inwiefern?«
»Du glaubst mir nicht. Du suchst nach vernünftigen Erklärungen.«
»Na hör mal, das ist doch klar. Was sonst? Willst du, dass ich sage, du wärst von Aliens oder so was entführt worden?«
»Die alte Juli hätte genau das gesagt!«
»Tja, die alte Juli hatte noch keine Ahnung von der Wirklichkeit«, sagt sie trocken. »Die alte Juli war ganz zufrieden, in einer kindischen, erdachten Welt zu leben, in der keine schlimmen Sachen passieren und in der man sich jede alberne Geschichte ausdenken konnte, die einem gefiel, und sich einbilden konnte, sie sei wahr.«
»Und die neue Juli?«
Juli steht auf und klopft sich Sand und Steinchen von den Beinen. »Die neue Juli weiß, dass die Welt so nicht funktioniert«, sagt sie. »Komm, wir sollten zurück. Ich will nicht, dass Mum aufwacht und das Apartment leer ist.«
Schweigend machen wir uns auf den Rückweg zur Ferienanlage. Meine Gedanken sind alle unter einem Wust begraben, und ich weiß nicht, wie ich einen einzigen formulieren soll.
Wir kommen zu Julis Tür. Ich weiß, ich sollte ihr anbieten, dass ich mit reinkomme, aber das schaffe ich einfach nicht.
»Hör mal, ich geh lieber allein rein, okay? Kümmere mich ein bisschen um Mum«, sagt Juli, als ob sie meine Gedanken gelesen hat. Oder vielleicht will sie mich einfach nicht in der Nähe haben. Würde mich nicht überraschen. Das Letzte, was sie zur Zeit brauchen kann, ist eine beste Freundin, die nur neue Probleme mit sich bringt.
»Bis später dann?«, frage ich.
Juli nickt. Ihr Gesicht ist leer und leblos. Wie eine Maske aus grauem Karton. Wie das einer anderen Person. Nicht das von Juli. Das ist nicht Juli.
Während sie auf ihr Apartment zugeht, hoffe ich verzweifelt, dass sie sich umdreht und mir auf ihre übliche Art breit zugrinst, um mir zu sagen, dass alles ein großes Missverständnis ist. Ihr größter, cleverster und schrecklichster Scherz. Ein winziger Teil meines Gehirns klammert sich immer noch an die Hoffnung, dass sie sich an der Tür umdreht und ruft: Reingefallen!
Tut sie aber nicht. Sie geht in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich, ohne sich umzudrehen und zu winken.
Was jetzt? Ich stecke in dieser fremden Welt fest, die ich nicht mehr wiedererkenne, und die einzige Person auf der Welt, mit der ich das normalerweise teilen würde – die mir normalerweise dabei helfen würde, der Sache gemeinsam mit mir auf den Grund zu gehen wie bei einem spannenden Abenteuer –, diese Person ist fort, und ich stehe allein auf dem Weg.
Da geht mir plötzlich ein Licht auf: Wenn sie recht hat, dass ich unter Gedächtnisverlust leide, wegen des Schocks über Mikeys Unfall, dann habe ich vielleicht nur alles vergessen, was ihre Familie betrifft. Vielleicht ist alles, was mit meiner Familie zu tun hat, wie üblich. Vielleicht kann ich mich an alles erinnern, sobald ich zu meinen Eltern und Craig zurückkomme. Und sobald mir alles, was meine Familie betrifft, wieder eingefallen ist, kann ich mich auch wieder an die Ereignisse erinnern, die mit Juli zu tun haben.
Dieser Gedanke kommt mir logischer vor als alles, was sonst passiert ist, und ich renne im Laufschritt zu unserem Apartment, aufgeregt und erleichtert, dass ich jetzt einen Plan habe, wie ich aus diesem Albtraum wieder herausfinden kann.
Auf wackeligen Beinen stehe ich vor unserer Wohnung.
Mit zitternder Hand ergreife ich die Türklinke und öffne die Tür. Ich zögere und halte die Klinke so fest umklammert, dass meine Finger ganz weiß werden.
Was, wenn ich doch nicht recht habe? Was, wenn ich mich nie mehr an das letzte Jahr erinnern kann und für immer in diesem Wirrwarr stecken bleibe? Was, wenn es doch nicht Gedächtnisverlust ist, sondern etwas, das ich nie verstehen werde oder niemals jemand erklären kann?
Was werde ich hier vorfinden?
Ich könnte jetzt kehrtmachen. Keiner hat mich gehört. Ich könnte gehen. Davonlaufen. Schlafen gehen oder so etwas. Vielleicht kommt mein Gedächtnis zurück, wenn ich aufwache. Vielleicht ist das alles ein schlimmer Traum! Deshalb ist alles so unlogisch. Es passiert gar nicht in Wirklichkeit!
Aber ich weiß, dass ich mir etwas vormache. Ich träume nicht. So verrückt und
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