Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
beängstigend das auch ist, was hier passiert, es findet wirklich statt. Ich muss der Sache auf den Grund gehen – und ob ich nun die Antworten bekomme oder nicht, ich muss mich dem, was mich in unserer Ferienwohnung erwartet, stellen.
Ich schlüpfe hinein und schließe die Tür.
7
Der Flur steht voller Gerümpel. Das fällt mir als Erstes auf. Mäntel auf dem Boden, überall Schuhe. Und ein Buggy. Ich starre ihn genauso erstaunt an, wie ich es tun würde, wenn er vor meinen Augen aus einer fliegenden Untertasse vom Himmel gefallen wäre.
Und dann gehe ich ins Wohnzimmer.
Der Unterschied zu sonst ist fast so schockierend wie die Dinge, die ich bisher erlebt habe. Wenn ihr meine Eltern kennen würdet, würdet ihr verstehen, was ich meine.
Die Wohnung, die sonst immer so ordentlich ist, so aufgeräumt und sauber, in der nie etwas am falschen Fleck steht, ist übersät mit Klamotten, Spielzeug, Decken, zerknüllten Papiertüchern, halbvollen Gläsern und Bechern, Plastikflaschen, Teller mit verkrustetem Essen auf dem Esstisch und unabgewaschenem Geschirr in der Spüle.
Das ist nicht die Wohnung meiner Familie. Das ist hundertpro das falsche Apartment. Ich hab mich in der Tür getäuscht – schlicht und ergreifend. Es ist die einzige Erklärung.
Gerade will ich kehrtmachen und auf der Stelle hinausgehen – da spricht jemand.
»Jenny, Gott sei Dank, dass du da bist«, sagt Dads Stimme. Ist das eigentlich die allgemeine Grußformel in dieser fremden neuen Welt? Außerdem frage ich mich, warum die Möbel mit Dads Stimme zu mir sprechen.
Und dann taucht sein Kopf hinter dem Sofa auf. »Hilf uns doch mal schnell, ja?«, sagt er. »Mum kann jede Minute hier sein. Sie bringt uns um, wenn es bei ihrer Rückkehr so aussieht. Du weißt ja, wie sie ist.«
Weiß ich das? Ich bin nicht sicher, dass ich noch überhaupt jemanden kenne. Ich glaube nicht, dass ich über irgendwas überhaupt irgendwas weiß.
Dad nimmt eine Schüssel mit angetrocknetem Brei vom Boden vor dem Sofa, hebt ein paar Kleidungsstücke auf und stößt mich im Vorübergehen an. »Jenny, los. Auf geht’s, Schätzchen. Sie kommt wirklich jede Minute.«
Ich möchte so viel fragen. Ich möchte fragen, wem die ganzen winzigen Anziehsachen gehören, denn als ich das letzte Mal hingesehen habe, war das einzige Baby in dieser Familie noch fest in Mums Bauch, und zwar noch für einen guten Monat. Andrerseits, wenn ich tatsächlich unter Amnesie leide, dann ist ja wohl einige Zeit vergangen.
Ich möchte am liebsten fragen, ob wir überfallen und ausgeraubt worden sind, während ich fort war – aber ich will lieber nichts Falsches sagen, falls es doch nicht so ist.
Und ich will fragen, wo Craig ist – aber nach dem, was Mikey zugestoßen ist, wird diese Frage zu einem harten Klumpen, der mir im Hals stecken bleibt.
Daher mache ich das Einzige, was ich kann: Ich fange mit dem Abwasch an.
»Danke, Schätzchen, du bist ein Engel«, sagt Dad. Er bringt weiteres Geschirr mit angeklebten Essensresten zur Spüle und gibt mir einen Kuss auf die Schulter. »Lass uns so gut aufräumen wie möglich. Ich glaube, ich könnte heute einen weiteren Nervenzusammenbruch deiner Mutter nicht ertragen – du verstehst doch?«
»Mmm«, mache ich. Nein, ich verstehe keineswegs. Mum hat Nervenzusammenbrüche? Das gibt es bei Mum und Dad doch nicht. Sie reden vernünftig und ruhig miteinander und klären alles zügig und sachlich.
Ich überlege immer noch, was Dad gemeint haben könnte, als ein Schrei durch die Luft hallt, der einem das Blut in den Adern gerinnen lässt. Ich springe ungefähr einen halben Meter in die Luft, lasse dabei drei Teller in die Spüle fallen und spritze mir einen Schwall Spülwasser über das T-Shirt.
»Was zum Teufel –«, fange ich an.
»Mist – kommst du mal, Schätzchen?«, sagt Dad. Er wischt gerade den Esstisch ab. »Sie braucht wahrscheinlich frische Windeln.«
Ich starre meinen Vater an. Mein T-Shirt ist voller Spülwasser, ich habe eine beste Freundin, deren Leben zerstört ist von etwas ganz Schrecklichem, das ihrem Bruder widerfahren ist – an das ich keinerlei Erinnerung habe –, und jetzt fragt man mich völlig nebenbei, ob ich einem Baby die Windeln wechseln kann, von dessen Existenz ich bisher nichts gewusst habe. Wie um Himmels willen soll ich darauf reagieren?
»Gerne, Dad«, sage ich mit einem Lächeln und gehe nach oben, wo das Geschrei herkommt, das sich jetzt zu einem ohrenbetäubenden Sirenengeheul gesteigert
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