Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
wieder mit ins Wohnzimmer, Jenny. Ich mach dir eine Tasse Kamillentee.«
»Ich will keinen Kamillentee!«, schreie ich. Panik schüttelt meinen Körper. »Ich will wissen, was mit mir passiert ist!«
»Komm, wir setzen uns. Wir kriegen schon raus, was da läuft. Es ist auch für dich nicht leicht. Es ist meine Schuld, ich habe mich zu sehr auf dich gestützt. Das hat dir zugesetzt. Komm, ich –«
»Habt ihr noch einen Spiegel?«
»Noch einen – äh, ja. In meinem Zimmer, zweite Tür rechts.«
»Lass mich reinschauen.« Ich gehe den Flur ein Stück entlang.
Aber was hat es für einen Zweck? Ich brauche nicht noch einen Spiegel. Meine Hände, die meinen kurzen Haarschnitt berühren, können nicht lügen. Meine Augen können sich das alles nicht einbilden. Es ist nicht nur mein Aussehen; es ist Juli. Und ihre Mutter, die Wohnung. Alles.
Juli folgt mir in ihr Zimmer. »Na los; sieh dir mein Zimmer an, wenn du willst.«
»Es spielt keine Rolle«, sage ich entschlossen.
Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, und ich lasse mich aufs Sofa fallen.
»Alles in Ordnung?«, fragt Juli und streckt die Hand nach mir aus.
Ich antworte nicht. Kann nicht antworten.
»Das wird schon wieder«, fährt sie fort. »Ich werde dich nicht mehr so sehr belasten. Der Stress hat dich angegriffen.«
»Was für ein Stress?«, murmle ich.
»Das ganze letzte Jahr. Du hast so viel gemacht; mir geholfen, mich um Mum und Dad zu kümmern; uns allen geholfen, mit der ganzen Sache fertigzuwerden; hast Mikey mit mir besucht – das war alles nicht einfach.«
Bei der Erwähnung von Mikeys Namen zucke ich zusammen. Der kleine Mikey im Koma? Das ist doch nicht möglich. Ich habe ihn gestern gesehen! Und jetzt ist er fort. Unsichtbar, wie sein Vater.
Halt mal.
Unsichtbar. Julis scherzhafte Bemerkung heute Morgen.
»Juli.« Ich halte mich an der Armlehne fest. »Erinnerst du dich an den Scherz, den du gemacht hast, von wegen Unsichtbarwerden?«
»Was für ein Scherz?«
»Vorhin. Erst – ich weiß nicht. Als wir uns nicht finden konnten. Du hast gesagt, du wärst vielleicht unsichtbar geworden. Und wir haben über das Leben in Parallelwelten gesprochen und so. Weißt du nicht mehr?«
Juli runzelt die Stirn. »Undeutlich. Glaube ich. Aber das war vor einer Ewigkeit! Das war letztes Jahr, Jenny!«
»War es nicht! Es war heute Morgen!«
Juli zieht wieder seufzend die Luft ein. »Jenny, lass mich mal deinen Kopf abtasten«, sagt sie. »Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.«
Ich lasse zu, dass sie mich abtastet. »Tut da was weh?«, fragt sie sanft.
»Ich hab mir den Kopf nicht angestoßen«, sage ich ruhig. »Ich habe keine Gehirnerschütterung. Warum glaubst du mir nicht?«
»Wie denn? Du klingst total verwirrt!«
Ich schüttle den Kopf. Sie hat recht. »Stimmt ja. Tut mir leid. Vielleicht bin ich ja hingefallen. Vielleicht träume ich.«
»Hör mal«, sagt sie und steht auf. »Warum machen wir nicht einen Spaziergang?«
»Aber was ist mit deiner Mutter?«
»Eine Weile geht das schon. Komm, wir brauchen frische Luft.«
Sie hat recht. Ich muss raus aus dieser Wohnung.
Juli steckt den Kopf ins Zimmer ihrer Mutter, dann schließt sie die Tür hinter sich und schleicht leise den Flur zurück. »Sie ist wieder ins Bett gegangen«, sagt sie. »Eine halbe Stunde oder so geht das schon.«
»Gut. Nichts wie raus.«
Wir nehmen den Weg zu unserer Stelle am Fluss. Eine Sekunde lang fühlt sich alles wie immer an. Juli und ich bei einem Spaziergang, ein bisschen abhängen. Und alles wäre gut, wenn ich so dahingehen könnte, ohne etwas von der Umgebung zu sehen. Aber überall sehe ich Zeichen von Veränderung. Nichts Großes – nichts, das von Bedeutung wäre, wenn man darauf hinweisen würde – aber gerade genug, um mich total zu verwirren und mich daran zu erinnern, dass meine Welt auf einmal nicht wiederzuerkennen ist. Kleine Dinge wie der Parkplatz. Er ist umzäunt, und jeder Stellplatz ist eingezeichnet und mit einer Apartment-Nummer versehen. Das war vor einer Stunde noch nicht so.
Und ich bin sicher , dass die Bäume am Ende von Julis Grundstück höher sind. Das waren heute Morgen noch kleine Schösslinge. Und hinter Julis Trakt steht ein neues Gebäude. Ich bin sicher, dass es bisher nicht da war. Und der Efeu am Empfangsgebäude – er sieht viel dichter aus.
Bilde ich mir das nur ein? Hat sich alles verändert? Das kann doch nicht sein. Aber wenn es keine Einbildung ist, wie kann es sein, dass ich dann ein Jahr lang
Weitere Kostenlose Bücher