Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
sie.
Ich nicke und beiße mir fest auf die Lippe. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen.
»Jenny, Mikey ist, wo er jetzt seit einem Jahr ist.«
Seit einem Jahr? Aber gestern war er doch noch bei ihnen. Schließlich habe ich ihn gesehen! Ich sage nichts, sondern warte, dass sie weiterspricht.
»Er ist im Krankenhaus.«
Ich greife mir mit der Hand an den Hals. Ich glaube, mir wird schlecht. »Warum?«, kann ich schließlich hervorpressen.
Juli schüttelt wieder den Kopf. »Ich fasse es nicht, Jenny. Warum? Was glaubst du denn, wo er sonst ist?«
»Ich – ich weiß nicht. Ich weiß nicht, warum er im Krankenhaus ist. Was ist los mit ihm?«
»Was mit ihm los ist, Jenny? Jenny, ich weiß nicht, was du für ein Spiel treibst, aber wenn ich es dir wirklich vorbuchstabieren soll, tue ich das. Mikey ist genau da, wo er seit einem Jahr ist. Daheim. In einem Krankenhausbett. Im Koma.«
»Jenny, alles in Ordnung?« Juli beugt sich über mich und wedelt mit einer Flasche mit etwas stark Riechendem vor meinem Gesicht herum. Ich huste und setze mich auf.
»Was ist passiert?«, frage ich.
»Ich glaube, du bist ohnmächtig geworden«, sagt Juli. »Willst du versuchen, aufzustehen?«
Ich richte mich auf und sehe sie an. Ich bemühe mich, alles zu begreifen, ohne Erfolg.
Juli hilft mir auf die Beine, und ich gehe hinüber und lasse mich aufs Sofa sinken. Sie holt ein Glas Wasser und setzt sich neben mich. »Trink das mal«, sagt sie. »Dann geht’s dir besser.«
Seit wann ist sie so fürsorglich? Die Juli, die ich kenne, hätte mich angestoßen und gesagt, ich solle mich zusammenreißen, und hätte mich zu irgendeinem Abenteuer mitgeschleppt. Sie würde mir doch kein Wasser holen und mich so sorgenvoll ansehen.
»Danke«, sage ich, nehme einen großen Schluck und lass mir das kühle Wasser durch die Kehle rinnen. »Geht schon ein bisschen besser.«
Sie lächelt mir zu – aber das Lächeln reicht nicht bis in ihre umschatteten Augen. Sie sehen aus, als hätten sie einen unsichtbaren Schleier, hinter dem sie sich versteckt. Es ist, als ob das, was immer so typisch für Juli war, verschwunden wäre.
Sie deutet auf meinen Hals. »He, wie nett, dass du das wieder mal ausgegraben hast.« Ich fasse hoch und berühre die Freundschaftskette, die sie mir doch erst heute Morgen gegeben hat. »Hör mal, vergessen wir einfach, was da gerade passiert ist, ja? Fangen wir noch mal von vorne an. Erzähl mal, was du so gemacht hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es ist ja schon eine Ewigkeit her!«
Ich lache. »Eine Ewigkeit?«
Juli lächelt ein wenig und die alte Juli blitzt in ihrem Blick auf. »Also, mindestens zwei Tage. Eine Ewigkeit für uns beide.«
Schwer lasse ich die Stirn in die Hand sinken. Ich brauche etwas, das mich aufrichtet. »Ich hab dich doch –« Ich sehe auf die Uhr. Zwanzig vor drei. »Ich hab dich doch vor zwei Stunden gesehen«, würge ich erstickt hervor. Meine Worte fühlen sich schwer an wie Steine. »Wir wollten zum Reiten fahren«, setze ich tonlos hinzu. »Du hast gesagt, ich soll nicht zu spät kommen.«
Juli atmet scharf ein. »Nicht schon wieder.« Sie beugt sich vor und legt mir eine Hand auf den Arm. »Hör mal, Jenny, ich weiß nicht, was du vorhast. Du spielst doch nicht irgendein Spiel, oder?«
Das wirft sie mir jetzt schon zum zweiten Mal vor. »Sehe ich so aus, als würde ich ein Spiel spielen, Juli?« Dann dämmert es mir plötzlich. Vielleicht ist es ja umgekehrt. Zum zweiten Mal heute habe ich den Verdacht, dass das möglicherweise alles ein einziger Streich ist. Ein schrecklicher, furchtbarer, geschmackloser Streich. Ich kann kaum glauben, dass Juli etwas so Grausames macht – aber auf einmal scheint es die einzige Lösung zu sein, die mir wahrscheinlich erscheint. Juli liebt Streiche. Das muss es sein.
»Juli, treibst du Blödsinn? Machst du dich über mich lustig?«, frage ich.
Sie sieht mich nur an. »Lustig, Jenny?« Sie steht auf und bringt mein Glas in die Küche. »Ich tu lieber mal so, als hätte ich das nicht gehört«, sagt sie, ohne sich umzudrehen.
Ich stehe auf und gehe ihr nach. Packe sie bei den Armen. »Juli«, sage ich. »Das ist schrecklich. Ich halte es nicht aus.« Dann breche ich ab und lasse den Kopf in die Hände sinken.
Sie stellt das Glas ab.
»Was ist denn los?«, fragt sie sanft. »Was ist passiert? Was läuft da, Jenny? Ist zu Hause was passiert?«
Ich schüttle den Kopf. Lieber nicht versuchen, zu sprechen. Jede Minute könnten mich
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