Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Monat beschlossen, das kleinere Apartment hier zu buchen. Ich wollte nicht wieder hierher. Dad ist es wahrscheinlich einerlei, wo wir sind, wenn nur ein Pub in der Nähe ist. Aber Mum – sie dachte, dass es gut für uns wäre.«
»Glaubst du, dass sie recht hat?«, frage ich.
Wieder Julis trockenes Lachen. »Sieh uns doch an, Jen. Meine beste Freundin hat Gedächtnisverlust; Mum schließt sich im Schlafzimmer ein und Dad macht sich wie immer unsichtbar. Wie hört sich das für dich an?«
Unsichtbar. Wieder das Wort. So komme ich mir auch vor. Als ob ich ein Jahr unsichtbar war. Die Welt ist an mir vorübergegangen und ich war nicht da. Das gefällt mir gar nicht.
»Juli, komm weiter«, sage ich. Ich muss in Bewegung bleiben. Ich muss mich daran hindern, stillzustehen und nur an das zu denken, was da los ist. Beweg dich, geh weiter, denk nicht zu viel nach.
Als wir unserer Stelle näher kommen, stelle ich fest, dass die Familien, die vorhin dort waren, fort sind. Wir gehen das letzte Stück über einen unebenen Pfad zu den Büschen. Gestern mussten wir uns durchkämpfen, praktisch über Zweige klettern, um an unsre Stelle zu kommen, aber jetzt ist der Wasserstand so niedrig, dass die Bucht breit genug ist, um außen herumzugehen.
Ich wühle in den Kieseln und suche einen flachen Stein. Ich finde einen und reiche ihn Juli.
Sie lächelt traurig. »Steine hüpfen lassen, daran habe ich schon ewig nicht mehr gedacht«, sagt sie. Sie tritt ans Ufer und lässt ihn gekonnt über die Wasseroberfläche hüpfen. Fünf Ditscher.
Ich nehme auch einen und werfe ihn über das Wasser. Er schlägt einmal auf, dann versinkt er mit einem PLOPP .
»Du bist immer noch die Weltmeisterin im Steineditschen«, sage ich.
Juli lächelt wieder. Diesmal reicht es fast bis in ihre Augen, und für einen winzigen Moment scheint alles wieder normal. Dann dreht sie sich nach mir um. »Jenny, was unternehmen wir in dieser Angelegenheit?«, sagt sie.
Ich bücke mich, wühle in den Kieseln und suche nach flachen Steinen. »Ich weiß nicht. Ich hab Angst.«
»Wovor?«
»Pass auf, ich glaube nicht, dass es Gedächtnisverlust ist«, sage ich. »Es liegt nicht an mir. Ich komme mir überhaupt nicht anders vor. Aber alles um mich herum hat sich verändert. Ich fühle mich wie immer.«
»Aber genauso ist das mit Amnesie!«
»Ich weiß«, sage ich, und die Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu. »Aber es kommt mir kein bisschen wie Amnesie vor! Es fühlt sich nicht an, als ob ich mein Gedächtnis verloren habe. Es ist – ich weiß nicht. Es ist so unheimlich.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht. Einfach nur so – es kommt mir nicht so vor, als ob ich die Geschehnisse vergessen hätte. Es ist, als ob sich alles verändert hat, innerhalb von einer Sekunde. Alles ist anders als heute Morgen. Nur dass es nicht heute Morgen war. Es war vor einem Jahr.«
Juli starrt mich nur an.
»Ich weiß, was du denkst«, sage ich.
»Was denke ich denn?«
»Dass ich die Symptome von Amnesie beschreibe.«
Juli sagt nichts, aber ihr Blick spricht Bände.
Ich setze mich in den Kies. »Ein ganzes Jahr«, sage ich leise, »und ich kann mich an nichts erinnern.«
Juli setzt sich neben mich. »Sag mal, was ist denn das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«, fragt sie.
»Wie du zu uns ins Apartment gekommen bist«, sage ich sachlich. »Wir wollten zum Reiten.« Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich mich an diese einfache, nutzlose Sache klammere. »Du hast noch gesagt, ›komm nicht zu spät‹.«
»Und das ist alles? Das ist wirklich das Letzte, an das du dich erinnern kannst?«
Ich nicke.
»Jen, schwörst du, dass du mich nicht veräppelst?«
»Natürlich veräppel ich dich nicht!«
Juli stößt einen leisen Pfiff durch die Zähne aus. »Wow.«
Stumm starren wir auf den Fluss. Das Wasser gleitet vorbei, sanfte Wellen bilden kleine Strudel um die größeren Steine.
»Dann muss es vorhin passiert sein, als du ohnmächtig geworden und gefallen bist«, sagt sie nach einer Weile. »Du musst dir den Kopf angeschlagen haben. Wir haben nur nicht gemerkt, wie schlimm es war.«
»Aber ich hatte doch schon davor alles Mögliche vergessen. Ich wusste nicht, dass ihr das neue Apartment habt.«
»Vielleicht bist du schon mal vorher ohnmächtig geworden.«
»Ich falle im Allgemeinen nicht einfach so in Ohnmacht«, sage ich. »Und überhaupt, daran hätte ich mich doch erinnern können.«
Juli sieht mich nur an.
»Okay, vielleicht nicht.
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