Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
wirkt es beruhigend auf den Patienten, die Stimmen von Freunden und Angehörigen zu hören«, sagt die Schwester.
Ich nicke. Sie tritt vom Bett zurück. Wir drei anderen stehen um Mikeys Bett herum.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und komme mir albern vor, mit Mikey zu reden, während er so daliegt. Ich versuche mich zu erinnern, über was ich normalerweise mit ihm rede. Computerspiele? Fernsehsendungen?
»Hey, angeblich gibt es bald eine neue Staffel von Doktor Who «, sage ich. Ich sehe Juli an und räuspere mich. Mir fehlen die Worte vor Angst.
»Es ist okay«, sagt Juli und versucht zu lächeln. Sie drückt meine Hand, und ich fühle mich noch elender. Sie sollte sich nicht auch noch um mich kümmern müssen!
In dem Moment geht die Tür auf, und Mr und Mrs Leonard kommen herein.
»Ach, Abby«, ruft Mum aus. Sie eilt hinüber und umarmt Julis Mutter. Sie hat Jeans an und einen Schal um die Schultern geschlungen. Er löst sich, als sie auseinandertreten, aber sie wickelt sich nicht wieder ein. »Es tut mir ja so leid«, sagt meine Mutter.
Mrs Leonard sieht sie kurz mit ganz leerem Blick an. »Nicht deine Schuld«, sagt sie schließlich. Ihre Stimme klingt düster und irgendwie mechanisch, wie eine dieser Computerstimmen. Dann starrt sie auf ihren Sohn hinunter, und zwei vereinzelte Tränen hinterlassen eine nasse Spur auf ihrem blassen Gesicht.
Die Schwester tritt zu uns. »Tut mir leid. So viele Menschen dürfen nicht auf einmal im Zimmer sein.«
»Ich komme kurz mit euch hinaus«, sagt Mrs Leonard. Julis Vater rückt einen Stuhl so nahe wie möglich an das Bett, setzt sich und nimmt Mikeys Hand. »Mein kleiner Junge«, sagt er mit rauer, gebrochener Stimme. Die Schwester bringt uns andere hinaus.
Dad und Craig sitzen gegenüber auf dem Gang und sehen sich zusammen ein Comicheft an. Craig springt auf, als er uns sieht.
»Nimm ihn mir bitte eine Weile ab, ja?«, sagt Mum in Dads Richtung.
Dad nimmt Craig bei der Hand. »Komm, Großer. Lass uns mal nach dem Süßigkeitenautomaten suchen.«
Wir sehen Craig und Dad am Ende des Korridors verschwinden. Mrs Leonard sieht mich mit leerem Blick an. »Wo bist du denn gewesen?«, fragt sie wieder mit der mechanischen Stimme.
»Ich – ich weiß nicht«, sage ich.
»Wir haben auf dich gewartet. Fast zwanzig Minuten. Und sogar nach dir gesucht. Es war, als ob du dich in Luft aufgelöst hättest. Aber du weißt ja, wie scharf Juli auf Reiten ist. Da sind wir dann losgefahren. Wir hatten ja für zwei Personen gebucht, und Mikey wollte es unbedingt mal versuchen, da haben wir es ihm erlaubt. Genau wie seine Schwester. Wollte immer was Neues ausprobieren …« Ihre Stimme erstirbt. »Will«, korrigiert sie sich. »Nicht wollte. Schließlich ist er ja nicht tot!«
Das Wort bleibt in der Luft hängen. Tot. Nein, tot ist er nicht. Und er stirbt auch nicht. So unmöglich es ist, ich weiß, was passiert – und obwohl ich in diesem Moment nicht viel helfen kann, kann ich zumindest eines sagen.
»Er stirbt nicht.«
»Ganz recht«, sagt Mum und packt ihre Freundin am Arm. »Du musst positiv denken, Abby. Es bringt nichts, das Schlimmste anzunehmen.«
»Nein, ich weiß«, erwidert Mrs Leonard mit ihrer leblosen Stimme.
»Ist er schon von einem Facharzt untersucht worden?«, fragt Mum.
Mrs Leonard nickt. »Sie warten jetzt darauf, dass die Apparate frei werden, dann muss er zur Tomographie.« Ihre Stimme bricht, als sie weiterzureden versucht. »Sie tun alles, um möglichst schnell dranzukommen, aber es gibt noch ein paar weitere Notfälle.« Sie bringt kaum ein Wort heraus. »Zuerst hat es gar nicht so schlimm ausgesehen, aber jetzt, wo er schläft – ich kann nicht anders, ich mache mir einfach Sorgen.«
»Ich hätte dort sein müssen, ich hätte dort sein müssen«, sagt Mum, mehr oder weniger zu sich selbst.
»Mach dir keine Vorwürfe. Jetzt ist er ja hier.«
»Ach, Abby.« Mum zieht sie an sich.
»Sie haben gesagt, wir sollten die Hoffnung nicht aufgeben«, sagt Mrs Leonard. Ihre Tränen kullern auf Mums Schulter. »Sie haben gesagt, die nächsten vierundzwanzig Stunden seien kritisch.«
»Er ist nicht tot«, sage ich wieder. »Er wird nicht sterben.«
Mrs Leonard löst sich von Mum. »Danke, Liebes. Wir müssen einfach daran glauben.«
Ich ertrage es kaum, sie so zu sehen, im Glauben, dass ihr Sohn sterben könnte, obwohl ich doch weiß, dass er nicht stirbt. Ich weiß nicht, wie viel es sie trösten würde, die Wahrheit zu kennen, aber
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