Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
direkt vor den Bildschirm auf den Boden und sehe mit offenem Mund zu. So wie Craig sonst immer. Dad steht stumm hinter mir.
»Wir waren auf einem Ausritt«, sagt die Frau. »Wir wollten den Fluss bei der Mile End Farm überqueren, als es passierte. Angus ist so schnell auf das Ende der Weide zugaloppiert, dass er den Fluss überhaupt nicht gesehen hat. Ist einfach die Böschung hinuntergerast und hat dabei das Kind abgeworfen.«
»In welchem Zustand befand sich der Junge?«
»Das ist merkwürdig. Wir dachten alle, es wäre ihm nichts passiert. Er ist fast sofort aufgestanden. Er hatte sich den Kopf etwas angeschlagen, aber ansonsten sagte er, sei alles in Ordnung. Daher habe ich ihn zu mir aufs Pferd genommen, und meine Kollegin hat Angus neben ihrem Pferd am Zügel geführt. Wir sind schön langsam zum Stall zurückgeritten.«
»Und wann haben Sie festgestellt, dass es doch ernster war?«
Die Frau schweigt, und die Kamera fährt näher an ihr Gesicht. »Als wir zurück waren«, sagt sie. »Ich habe ihm vom Pferd geholfen, und er konnte nicht aufrecht stehen. Er hat das Gleichgewicht verloren – dann hat er sich übergeben.«
»Und da haben Sie dann den Notarztwagen gerufen?«
Die Frau nickt. »Wir hätten ihn ja selbst ins Krankenhaus gebracht, aber Bob – der andere Reitlehrer – hatte den Jeep genommen. Und da wir verfrüht von dem Ausritt zurückkamen, waren die Eltern der Kinder auch noch nicht da.«
Die Kamera schwenkt zurück zum Reporter. »Und so weit ich gehört habe, gab es Schwierigkeiten mit dem Krankenwagen?«
Die Frau wurde rot. »Es gab ein Missverständnis bezüglich der Adresse. Auf der anderen Seite der Stadt gibt es einen Reitstall, der Moor field heißt. Unserer heißt Moor side .« Die Frau sieht zu Boden. »Inzwischen waren einige der Eltern eingetroffen – aber wir haben ja die ganze Zeit gedacht, dass der Notarztwagen jede Minute kommen müsste, deshalb haben wir gewartet. Ich hätte mal nachfragen sollen«, setzt sie hinzu. »Und ich hätte den Notarzt schon direkt nach dem Unfall anrufen sollen. Ich hätte alles anders machen sollen.«
Die Kamera fährt noch dichter an das Gesicht der Frau. Sie hat Tränen in den Augen. Nach einer Pause schwenkt die Kamera zu dem Reporter. »Michael Leonard ist ins Westchurch-Krankenhaus gebracht worden. Dort hat sich sein Zustand verschlimmert. Er wird als kritisch beschrieben.«
Es schnürt mir die Kehle zu.
»Die Ärzte sagen, die nächsten vierundzwanzig Stunden werden entscheiden, wie die Zukunft für den Jungen aussieht. Mein Name ist Pete Travers von North Tonight.«
Das Zimmer kommt mir plötzlich dunkel vor. Dad stellt den Fernseher ab, aber wir starren beide weiter auf die Scheibe, als könnte der Apparat wieder angehen und uns wissen lassen, dass alles ein Missverständnis ist.
Das einzige Geräusch kommt von Craig, der seine Autos über den Heizkörper fahren und sie dann mit lautem Getöse über den Rand stürzen lässt.
Ich liege seit Stunden im Bett, kann jedoch nicht schlafen. Meine Gedanken hören nicht auf, durcheinanderzuwirbeln. Es ist, als ob sich ein Karussell zu schnell dreht, um abzuspringen. Die Gedanken überstürzen sich: die Juli der Zukunft, gelähmt und erschöpft, ihre Mutter wie ein Zombie, Mikey im Krankenhaus – alles entsetzlich und alles in falscher Abfolge.
Jeder ist älter, dann wieder jünger. Was ist geschehen? Wie ist das geschehen?
Schluss!
Ich versuche es mit einer Entspannungsübung, die Mum mir mal gezeigt hat. Konzentriere mich auf meinen Atem, der kalt eingezogen und warm wieder ausgestoßen wird. Schließe meine Augen, atme in den Bauch … ein … aus. Ein … aus.
Es hilft. Mum kennt viele solcher Übungen. Sie hat sie während ihrer Schwangerschaft angewendet. Sie meint, es hilft dem Baby, ruhig zu bleiben.
Noch so eine Sache! Sie hat das Baby schon bekommen. Beziehungsweise, sie hatte es schon – oder wird es bekommen. Was ist was? Ich werde wieder munter, und meine Gedanken purzeln wieder durcheinander. Es hat keinen Sinn. Ich kann doch nicht einschlafen.
Ich knipse meine Nachttischlampe an und sehe zu Craig hinüber. Er liegt ausgestreckt auf dem Rücken, die Arme über den Kopf erhoben, und atmet mit tiefem Grunzen. Seine Teddys sind auf dem Kopfkissen verteilt, und sein Lieblingstier, Fips der Affe, schlummert gleich neben seiner Wange.
Ich ziehe die Schublade meines Nachttischs auf und hole mein Tagebuch heraus.
Das war der allerschlimmste Tag meines Lebens,
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