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Ein Jahr ohne Juli (German Edition)

Ein Jahr ohne Juli (German Edition)

Titel: Ein Jahr ohne Juli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Kessler
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immer langsamer werdend, dann wieder schneller, wie Wellen brechen sie über mir zusammen. Wo bist du gewesen, Jenny?
    »Ich weiß nicht!«, schreie ich schließlich und halte mir die Ohren zu. Craig schlurft an mir vorbei nach draußen. »Ich weiß nicht, wo ich war! Okay? Ich weiß es nicht!«
    Dad sieht mich an und schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht, was mit dir los ist«, sagt er leise.
    Ja, genau wie ich, Dad.
    Mum stößt plötzlich scharf die Luft aus und hält sich wieder den Bauch. »Tom, können wir nicht los?«, sagt sie. »Es geht mir nicht so gut, und dieses Hin und Her hilft mir nicht gerade.«
    Craig kommt in die Diele zurückgerannt. »Krieg ich einen Keks?«, fragt er, ehe Dad Mum antworten kann.
    Mum lächelt, so gut sie kann. »Aber sicher, Schätzchen.«
    Dad legt den Arm um Mum. »Okay, Liebling?«
    Mum nickt. »Lass uns endlich hinfahren.«
    »Ja, ganz recht.« Er folgt Craig in die Küche. »So, nun komm, Junge – aber nur einen, ja?«
    »Mum? Sagst du mir, was passiert ist?« Meine Stimme klingt ungefähr zehn Oktaven höher als sonst, und mein Hals fühlt sich wie zugeschnürt an. »Bitte. Müsst ihr beiden vor dem Essen noch woanders hin? Ich kann hier bei Craig bleiben, wenn ihr wollt. Habt ihr beiden was zu besprechen? Habt ihr Streit?« Ich zermartere mir das Gehirn und überlege fieberhaft, was die allgemeine Aufregung ausgelöst haben kann. »Ihr könnt auch gerne allein zu eurem Essen gehen, wenn ihr wollt, nur ihr zwei. Es macht mir nichts aus.«
    Mum sieht mich an, als ob ich gerade etwas in einer fremden Sprache gesagt hätte. Habe ich auch vielleicht. Heute würde mich nichts mehr überraschen.
    Fast nichts.
    »Es hat einen Unfall gegeben«, sagt Mum vorsichtig. »Krieg nicht gleich Angst. Ich bin sicher, es ist nicht so schlimm, aber …« Sie zögert.
    »Aber was?« Das Blut rast in meinen Adern, pocht hinter den Schläfen, und ich hebe die Hand vor den Mund. Ich weiß ja, was sie sagen wird.
    »Es geht um Mikey.« Sie greift nach meiner freien Hand und hält sie fest. »Er ist mit Juli reiten gegangen. Sein Pferd – es hat ihn abgeworfen.«
    Ich nicke und presse die Lippen fest aufeinander.
    »Wir wissen eigentlich noch gar nicht, wie schwer verletzt er ist, aber er …« Mum verstummt. Ein merkwürdiges Geräusch kommt aus ihrem Hals, als ob sie erstickt. Sie schluckt. »Sie haben zuerst gedacht, es sei nichts weiter. Dann ist es ganz schnell schlimmer geworden – und dann mussten sie warten. Der Notarztwagen hatte sich verspätet; keiner war da. Jenny, der arme kleine Mikey hat schließlich zwei Stunden warten müssen.« Diesmal wird aus ihrem erstickten Laut ein Schluchzen.
    »Zwei Stunden auf was?« Ich halte den Atem an. Die Diele dreht sich vor meinen Augen.
    »Um ins Krankenhaus zu kommen.«
    Ich sage nichts. Ich bin zu Stein erstarrt.
    »Ich hätte dort sein müssen«, flüstert Mum. »Ich hätte Hilfe leisten können. Ich hätte etwas machen können. Aber ich hatte mich verspätet. Das Kerzenmuseum – es hat länger gedauert, als ich dachte, und mit dem Baby …« Ihre Stimme erstirbt.
    »Aber jetzt ist er doch am rechten Ort«, sage ich tonlos.
    Sie starrt nur vor sich hin. »Ich habe doch einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Zusammen mit Dad. Darum macht man so etwas, damit man zur Stelle ist. Und das war ich nicht. Ich war nicht da«, krächzt sie.
    Ich zwinge mich, etwas zu sagen. »Das konntest du doch nicht wissen, Mum. Du kannst wohl kaum was dafür.« Ich bin ganz benommen und erstarrt.
    Sie nickt, dann zieht sie ein Taschentuch aus der Tasche. »Wir müssen jetzt hin. Bist du so weit? Alles in Ordnung?«
    Ob alles in Ordnung ist? Fast muss ich lachen. Das Einzige, was mich davon abhält, ist die Tatsache, dass ich wahrscheinlich, sobald ich den Mund öffne, schreien muss, schreien, schreien, schreien ohne Ende. »Ja«, sage ich schließlich. »Und bei dir?«
    Sie lächelt und wischt sich die Augen trocken. »Komm, gehen wir.«
    Dad und Craig kommen zu uns. »Fertig?«, fragt Dad. Dann öffnet er die Haustür und nimmt Mums Arm.
    Zwei Minuten später sind wir unterwegs. Craig holt ein paar Matchbox-Autos aus seinem kleinen Rucksack. Er lässt sie auf seinen Beinen hin- und herfahren und ineinanderkrachen und macht dazu Actionfilm-Geräusche. Dad hat das Steuerrad mit geballten Fäusten umklammert und fährt fast doppelt so schnell wie erlaubt zum Krankenhaus.
    Keiner sagt, er soll langsamer fahren.

8

    Dad steht am Empfangsschalter und erkundigt

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