Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
schreibe ich . Oder besser, es waren die zwei allerschlimmsten Tage meines Lebens – die beide am gleichen Tag stattfanden!
Ich schreibe alles, was passiert ist, nieder, jede einzelne Begebenheit des Tages: der Gang zu Julis Wohnung, in der die Frau plötzlich war, der alte Fahrstuhl, der Mann, der mir gesagt hat, ich soll ein Stockwerk tiefer suchen, Juli und ihre Mutter in dem abgedunkelten Zimmer, die eilige Fahrt ins Krankenhaus – alles. Es strömt alles aus mir heraus, Seite um Seite.
Erst, als ich zu schreiben aufgehört habe und es noch mal durchlese, fällt mir etwas auf. Mit einem Beben und Frösteln durchfährt es meinen Körper. Das ist es! Der Moment, der alles verändert hat.
Ich weiß, wie es passiert ist.
9
Kaum, dass das erste Tageslicht ins Zimmer dringt, steige ich aus dem Bett. Ich habe die ganze Nacht damit zugebracht, an die Decke zu starren und auf den Morgen zu warten. So kommt es mir zumindest vor. Irgendwann muss ich aber doch eingeschlafen sein, denn ich bin ganz verschwitzt aus einem schlimmen Traum aufgewacht. Ich habe geträumt, ich wäre hinter Juli hergelaufen, aber sie lief mir ständig davon. Sie ist um eine Ecke gerannt und verschwunden. Als ich sie einholte, hatte sie sich in Mikey verwandelt. Er hat beim Rennen gelacht und mich über die Schulter angesehen. Er hat nicht gemerkt, dass er auf den Rand eines Abhangs zurennt. Ich habe ihn die ganze Zeit zu warnen versucht, aber er hat mich nicht hören können. Am Abhang hat Mum mit einem Baby gestanden. Gleich würde Mikey mit ihr zusammenstoßen, und alle drei würden über die Klippe stürzen – und dann bin ich aufgewacht.
Ich stehe auf und schüttle den Traum ab. Zuerst hatte ich das Bedürfnis, hinauszurennen, nachdem mir eingefallen ist, was geschehen war, aber ich konnte nicht. Nach allem habe ich einfach nicht die Nerven, draußen in der Dämmerung nach Antworten zu suchen.
Craig schnarcht leise. Er rührt sich und dreht sich um und wirft seine Decke auf den Boden. Ich hebe sie auf und lege sie sanft über ihn. Dann hole ich meine weiteste Jeans und das größte T-Shirt, das ich habe, aus dem Schrank und ziehe beides an. Die rote Anzeige des Weckers fällt mir ins Auge. 6 Uhr 15.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Zettel.
Krankenhaus hat in der Nacht angerufen. Mums Wehen haben eingesetzt! Pass auf Craig auf. Komme so bald wie möglich zurück. Dad xxx
Das ist einen Monat zu früh. Ist es gefährlich, so früh die Wehen zu bekommen? Ich bete stumm, dass alles gutgeht – und dann fällt mir ein, dass sie es schafft. Ich habe das Baby ja schon gesehen!
Pass auf Craig auf. Bedeutet das, dass ich hierbleiben soll?
Nein. Ich muss es machen. Ich muss sicher sein. Ich kritzle eine Nachricht für Craig und lege sie neben die von Dad.
Craig, bin kurz einkaufen. Mach dir Frühstück und guck fern. Bin bald zurück. Jenny xx
Ich schleiche mich aus dem Haus wie ein Einbrecher, schließe leise die Tür hinter mir und gehe hinüber zu Julis Trakt.
Die Eingangshalle ist leer. Sie sieht genau aus wie jeden Tag, genau wie jedes Jahr. Die Marmorwände, der Springbrunnen hinter einer Glasscheibe, der Torbogen zum Erdgeschossflur. Der Aufzug. Der, den ich immer benutzt habe. Und daneben der andere: der sonst nie funktioniert hat. Bis gestern.
Ich gehe darauf zu und halte den Atem an. Das Herz schlägt mir heftig an die Rippen, als ich vorsichtig einsteige und die Tür hinter mir zumache. Es ist dunkel. Ich kann die Knöpfe nicht richtig sehen. Ich taste die Wand ab. Die Zahlen treten allmählich deutlicher hervor, als sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnen. Es kribbelt mir am ganzen Leib, bis in alle Nervenenden, am Rücken, am Nacken und an den Armen.
Ich weiß, dass es unmöglich ist. Ich weiß, dass es nicht sein kann. Aber ich weiß auch, dass es so sein muss . Es ist passiert; es gibt keine andere Erklärung.
Der Fahrstuhl hat mich gestern nicht nur ein Stockwerk hinaufgefahren – er hat mich auch ein Jahr weitergebracht.
Wenn Juli im zweiten Stock gewohnt hätte und ich hätte auf zwei gedrückt? Hätte mich der Fahrstuhl zwei Jahre weitergebracht, nicht nur eines?
Vielleicht wird alles, wenn ich mich zwei Jahre von dem schrecklichen Vorfall entferne, wieder normal? Vielleicht sind wir dann alle wieder glücklich?
Ich muss es wissen.
Die Knöpfe sind jetzt gut zu erkennen, nachdem meine Augen sich ganz an die Dunkelheit gewöhnt haben. Ich starre sie an und weiß, dass es nur eine Antwort auf die
Weitere Kostenlose Bücher