Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
sagt sie. Ihr Blick ist so angespannt wie ihre Stimme. »Ich bin doch keine verwirrte alte Närrin. Sag es mir. Sag mir, dass ich nicht den Verstand verloren habe, Jenny. Sag, dass es wirklich passiert ist.«
»Ich … Woher haben Sie gewusst, dass ich die Wahrheit gesagt habe? Was hat Sie überzeugt, dass ich Ihnen keinen Streich gespielt habe?«
Ihr Griff um meine Hände wird fester. »Es stimmt also?«
Ich nicke. »Ja, es stimmt«, sage ich.
Sie steht auf und geht zur Spüle hinüber. Sie blickt aus dem Fenster und redet mehr oder weniger zu sich selbst, als ob sie vergessen hat, dass ich da bin. »Wie könnte ich es erklären? Wie kann man etwas erklären, das absolut unlogisch klingt?«
»Sie – Sie – wie …?« Ich kann die Frage nicht beenden. Ich weiß nicht mal, was ich zu fragen versuche.
»Woher ich weiß, dass dir das wirklich passiert ist?« Sie lächelt traurig. »Ich habe es deinen Augen angesehen. Der Schock, die Fassungslosigkeit, die Fragen. So einen Ausdruck habe ich vorher nur einmal in meinem Leben gesehen.« Sie sieht mich an. »Und du weißt, wann das war, nicht?«
Ich begreife plötzlich, was sie sagt. Zumindest glaube ich das. Aber das kann doch nicht sein!
»Ich sah es, als ich mich im Spiegel betrachtet habe«, sagt sie. »Wie soll man so etwas erklären können? Ich war noch ein Kind, wie du. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war, keiner konnte es mir erklären. Ich konnte es keinem sagen.« Sie lässt sich wieder auf ihren Stuhl gleiten und sieht mich an. »Verstehst du das, Jenny? Keinem. Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, was passiert war, wie, warum … nichts. Ein Jahr meines Lebens verloren. Und ich wusste nur eines: Es war hier passiert.«
»Sie sind als Kind hierhergekommen? Aber ich wusste gar nicht, dass es das hier schon gab.«
»Gab es auch nicht. Nicht so wie heute zumindest. Es war ein Hotel. Wusstest du das?«
Ich schüttle den Kopf.
»Nur dieses Gebäude. Der Rest drum herum ist nach und nach gebaut worden. Es war damals ziemlich heruntergekommen. Meine Eltern haben mit mir hier jedes Jahr Urlaub gemacht.«
»Und was ist geschehen?«, frage ich.
»Ich war dreizehn. Fast vierzehn. Immer wollte ich schon älter sein, wollte, dass mein Leben schneller vergeht. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte! Ich kann mich an die Nacht erinnern, ehe es passiert ist. Ich hatte ein Buch über ein Mädchen gelesen, das in der Zeit zurückreiste, und ich fand, dass es herrlich sein müsste, durch die Zeit zu reisen.«
Genau wie bei mir! Als es passierte, hatte ich mir gerade gewünscht, in die Zukunft blicken zu können!
»Meinen Geburtstag haben wir immer hier im Hotel gefeiert«, fährt Mrs Smith fort. »Am Nachmittag war ich mit meinen Freunden unterwegs gewesen, und ich kam zurück zu unserem Zimmer. Kaum betrat ich es, da wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es gab die Geburtstagsfeier – aber die falsche.«
»Die falsche?«
»Die Geburtstagskarten. Die erste war von meinen Großeltern. Ich dachte, sie hätten sich vertan. Herzlichen Glückwunsch zum fünfzehnten Geburtstag, liebe Enkelin. Lachend zeigte ich sie meiner Mutter. Schau mal, sagte ich, was sie gemacht haben. Sie sah mich so befremdet an. Mach doch die anderen Karten auf, sagte sie. Das tat ich. Ich riss die nächste Karte auf. Sie war von Tante Gladys und Onkel Frank.«
»Und wieder das Gleiche?«
Sie nickt. »Zum Fünfzehnten. Bei allen. Nach einer Weile war es nicht mehr lustig. Es war alles andere als lustig.«
»Und dann haben Sie sich gesehen?«
»Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen. Mutter hatte mir eine Haarbürste mit Handspiegel geschenkt. Richtig schön. Mit Goldrahmen und auf der Rückseite ein Bild von einem englischen Schäferhund.« Sie zögert. »Der Handspiegel. Da wusste ich es mit Sicherheit. Ein Blick hat genügt. Habe den Spiegel glatt fallen lassen. Vor mir auf dem Tisch ist er in tausend Stücke zersprungen. Mutter war sehr aufgebracht.«
»Sieben Jahre Unglück«, sage ich leise.
»Ach, viel mehr als sieben Jahre, Jenny. Es war erst der Anfang. Ich bin dann ins Bad gegangen und habe versucht, mich zu fassen.«
»Genau wie ich«, sage ich. »Aber das hat alles schlimmer gemacht?«
»Genau. Mich so zu sehen. Wie in einem Spiegelkabinett. Wo man sich zwar erkennt, aber man ganz anders aussieht, nicht so, wie man es gewöhnt ist. Eine unheimliche Verzerrung, ein Schatten, der von der Nachmittagssonne in die Länge gezogen ist. Oder eine
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