Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Fragen gibt, die mir im Kopf herumschießen.
Mit zitternder Hand drücke ich auf den Knopf mit der 2 .
Der Fahrstuhl hält an. Ich ziehe die Türen auf, laufe hinaus auf den Korridor und suche die Apartmentnummern ab. 210, 211, 212 …
Ich renne die Treppe hinunter. Im ersten Stock bleibe ich zuerst vorne im Gang stehen. Aber ehe ich es mir recht überlegt habe, gehe ich auch schon den Gang entlang in Richtung Julis alter Wohnung. Diesmal drücke ich mich nicht. Ich muss ein paar direkte Fragen loswerden – und brauche ehrliche Antworten.
Vor Apartment 110 bleibe ich stehen. Meine Brust fühlt sich an, als ob jemand darin sitzt und mit den Fäusten an die Rippen hämmert. Ich klopfe dreimal an die Tür, die eine Sekunde später aufgerissen wird.
»Du bist es! Ich wusste , dass du wiederkommen würdest!« Mrs Smith lächelt breit und packt mich. Sie zieht mich in eine erdrückende, knochige Umarmung.
Ich weiche zurück. »Was ist los?«, frage ich und trete zurück, um sie anzusehen. Ist sie älter? Schwer zu sagen. Sie hat andere Sachen an, aber –
Da fällt es mir auf. Meine Kleider. Ich blicke zu meinen nackten Fußgelenken hinunter. Meine Jeans hört fünf Zentimeter über den Schuhen auf, meine T-Shirt-Ärmel sind viel zu kurz.
»Komm doch herein, Jenny.« Mrs Smith hält mir die Tür auf.
»Darf ich mal in Ihr Bad?«, frage ich. Ich muss mich vergewissern. Sie winkt mich herein.
Im Bad starre ich mich an. Das ist vielleicht unheimlich. Es ist, als ob ich mich ansehe, aber gleichzeitig auch eine andere. Es ist sogar schwierig, genau zu sagen, was anders ist. Mein Gesicht hat sich nicht sehr verändert. Vielleicht ein bisschen schmaler geworden. Mein Haar ist immer noch ziemlich kurz, aber es hat einen Hauch Farbe bekommen. Strähnchen? Mum hat mir erlaubt, die Haare zu färben? Na, wenigstens etwas Gutes. Es steht mir.
Das bin ich mit vierzehn. So werde ich aussehen. Ich kann den Blick nicht losreißen.
»Alles in Ordnung, Jenny?«
Ich habe nicht die Zeit, herumzusitzen und mein Aussehen zu bewundern. Ich muss der Sache auf den Grund gehen. »Komme schon«, rufe ich.
Sie wartet am Küchentisch auf mich. Vor ihr stehen zwei Gläser Orangensaft. Sie deutet auf eines. »Ich habe dir Saft eingeschenkt«, sagt sie mit nervösem Lachen. »Nicht Wasser, wie letztes Mal.«
Ich setze mich. »Danke«, sage ich und nehme einen Schluck.
Sie sieht mir zu. »Wegen letztem Mal«, sagt sie. »Es tut mir leid, dass ich so schrecklich zu dir war.«
»Sie waren nicht schrecklich«, sage ich schnell.
Sie nickt. »Doch, war ich. Jenny, ich möchte mich bitte entschuldigen.« Sie lächelt, und ihr Blick ist so voll von Traurigkeit und Bedauern, dass ich auf der Stelle den Wunsch habe, ihr zu helfen.
»Okay«, sage ich. »Danke.«
»Ich dachte, du wolltest mir einen Streich spielen, verstehst du. Aber je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto überzeugter war ich, dass ich nicht recht hatte – und dann war es zu spät, dir das zu sagen. Ich habe gebetet, dass du zurückkommen würdest«, sagt sie. »Ich konnte nicht zu dir kommen. Das, was ich dir sagen wollte, konnte ich nicht vor deiner Familie und deinen Freunden sagen. Ich wollte dir alles erzählen.«
»Erzählen? Was?«
»Nachdem du da warst …«
»Letztes Jahr?«, frage ich. Ich merke, dass ich den Atem anhalte, während ich auf ihre Antwort warte.
»Ja«, sagt sie. »Letztes Jahr.«
Mein Herz bleibt stehen. Ich dachte, sie würde die Wahrheit kennen. Ich muss sie missverstanden haben. »Aber –«
»Oder in deinem Fall …« Mrs Smith beugt sich vor und sieht mir ins Gesicht, »gestern.«
»Wirklich? Sie wissen es?« Ich schlucke heftig.
»Ja – ich weiß alles«, flüstert sie. »Ich habe es wahrscheinlich schon bei deinem ersten Besuch gewusst. Aber ich wollte es nicht zugeben. Zumindest nicht dir gegenüber, nicht mal mir selbst gegenüber. Schließlich kann es doch gar nicht sein, oder?«
»Nein«, sage ich dumpf. Sie versteht mich! Sie glaubt mir!
Mrs Smith lässt mich nicht aus den Augen. Eine ganze Weile sagt keiner von uns etwas. Dann holt sie rasch Luft und spricht schnell. »Du hast ein Jahr verloren, stimmt’s? Die übrige Welt hat weitergelebt und dich zurückgelassen – und du weißt nicht, wo das Jahr abgeblieben ist oder wie du es zurückbekommen kannst. Und es ist genau hier passiert.« Sie beugt sich erneut vor und schiebt mein Glas beiseite, um meine Hände zu ergreifen. »Das ist doch wahr, nicht?«,
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