Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Halluzination, ein Albtraum. Man versucht, das Bild aus einem anderen Winkel anzusehen, um es zu überlisten. Aber es lässt sich nicht überlisten.«
»Und was ist dann passiert?«
»Als ich wieder zurückging, hatten meine Eltern die Karten auf dem Kaminsims aufgestellt. Sie dachten, das würde mich freuen. Aber sie hatten ja keine Ahnung, was geschehen war, nicht? Sie konnten nur sehen, dass ich unglücklich war. Haben mich aufzuheitern versucht. Weißt du, was ich gemacht habe?«
Ich schüttle den Kopf.
»Habe alle Karten runtergerissen, von dem Sims gefegt und in Fetzen gerissen. Jede einzelne. Und dabei geschrien. Habe fast das ganze Zimmer verwüstet. Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren. Meine Eltern dachten das übrigens auch. Sie machten sich große Sorgen, eine Weile zumindest.«
»Warum nur eine Weile?«
Mrs Smith bückt sich und fegt ein paar unsichtbare Krümel von ihrem Kleid. »Ich habe mich mit der Zeit damit abgefunden. Habe mitgespielt.«
»Was meinen Sie mit ›mitgespielt‹? Was haben Sie gemacht?«
Sie stößt einen tiefen Seufzer aus. »Nach ein paar Wochen habe ich behauptet, ich hätte mir das ausgedacht. Hätte ihnen nur was vorgemacht, hätte einfach nur die Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollen. Was wäre sonst geschehen? Ich konnte ihnen doch nicht ständig Sorgen bereiten. Deshalb habe ich irgendeinen Unsinn erfunden, den sie gerne glaubten – den sie unbedingt glauben wollten . Ich habe gelogen, das war’s. Und immer weiter gelogen. Habe behauptet, ich könnte mich an alles erinnern. Habe behauptet, alles sei bestens, habe mich entschuldigt, habe weitergelebt.«
»Ihr neues Leben, dem alten Leben ein Jahr voraus?«
»Genau. Ach, wie bin ich für meine Lügen bestraft worden. Wenn ich die Augen schließe, spüre ich noch immer die Pein. Aber mit der Zeit wurde es einfacher. Es wird einfacher. Die Lücken kann man leicht füllen. Man muss nur lernen, wie man das macht. Die richtigen Fragen stellen, die richtigen Worte finden, dann sagen einem die Leute alles, was man wissen will.« Sie wendet sich ab, aber ich kann noch erkennen, dass ihre Augenwinkel nass sind. »Oder fast alles.«
»Was meinen Sie?«
»Ich meine, dass man andere belügen kann, sogar sich selbst. Man kann es fast schaffen, sich selbst davon zu überzeugen, dass die Dinge nicht wirklich so sind, wie man sie erlebt hat, dass sie nicht wirklich passiert sind, dass sie einen nicht an den Rand des Wahnsinns geführt haben. Aber ich kann dir eines sagen, Jenny.«
»Was?« Ich halte die Luft an.
»Du kannst deine Seele nicht belügen.« Sie beißt die Zähne zusammen und nickt trotzig. »Wenn du das zu tun versuchst, Jenny, dann stirbst du innerlich.«
»War das bei Ihnen so?«
Sie presst die Lippen aufeinander. »Ich habe nicht nur ein Jahr verloren. Ich habe alles verloren.« Sie lächelt ein wenig und sieht aus dem Fenster. »Ich war in ihn verliebt. An dem Abend wollte ich ihm das sagen.«
»Verliebt in wen?«
»Ich sagte mir, wenn ich vierzehn bin, dann sag ich es ihm. Jedes Jahr, wenn ich ihn traf. Ich wusste, dass er der Richtige war. Gleich von Anfang an. Aber ich dachte, mit zehn kann man doch noch nicht verliebt sein. Auch nicht mit elf, zwölf oder dreizehn. So hieß es zumindest. Meine Eltern lachten mich aus. Meine Freundinnen hielten mich für eine Spinnerin. Jungen! Sie hatten noch kein Interesse an Jungen ! Also, ich eigentlich auch nicht. Nicht an Jungen allgemein. Nur an dem einen Jungen. Ich nahm mir vor: Wenn du vierzehn bist, dann sagst du es ihm.«
»Warum gerade vierzehn?«
Sie zuckte die Schultern. »Das habe ich mich auch tausend Mal gefragt. Ich weiß es nicht. Es klang einfach älter. Alt genug. Und ich dachte, wenn er genauso fühlt, dann heiraten wir und dann sind wir für immer zusammen. Jeden Tag, jede Woche, nicht nur eine Woche im Jahr.«
»Und was ist dann passiert?«
»Am Abend vorher hatte ich mich mit ihm getroffen. Er versuchte, mich zu küssen. Also, er hatte mich vorher auch schon geküsst, auf die Wange. Ganz oft. Aber diesmal war es anders, ich wusste es. Er beugte sich ganz zu mir her, schloss die Augen …«
»Und?«
»Und ich bin ausgewichen. Zurückgezuckt. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Als ob ich ihn geschlagen hätte. Ich sagte, nein, küss mich noch nicht, nicht vor morgen. Was ist denn morgen?, wollte er wissen. Ich sagte, mein Geburtstag. Ab morgen bin ich erwachsen. Dann kannst du mich küssen.«
»Wie hat er reagiert?«
»Er
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