Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
er.«
»Aber das ist ja gemein von ihm!« Ich bin empört.
Mrs Smith schüttelt den Kopf. »So klingt es. Aber das war gar nicht typisch für ihn. Er war sonst immer so sanft und freundlich gewesen. Er war verletzt, Jenny. Er musste es mir heimzahlen und sah keinen anderen Weg. Denke nicht schlecht von ihm.«
»Okay. Ich verstehe«, sage ich leise. »Und wie ging es dann weiter?«
»Ich sagte, ich mache mich doch nicht lustig über dich, Bobby, ehrlich nicht. Aber er hat mir nicht geglaubt. In seinem Bewusstsein gab es nur die Tatsache, dass ich ihn abgewiesen hatte, und das war’s. Er hatte ein ganzes Jahr darüber nachgegrübelt. Ein Jahr, an das ich mich nicht erinnern konnte – ein Jahr meines Lebens, das ohne mich stattgefunden hatte!«
»Alle um einen herum tun so, als ob man das letzte Jahr ganz normal mit ihnen verbracht habe – aber man selbst weiß nichts davon. Schrecklich, nicht?«
»Mehr als schrecklich«, stimmt mir Mrs Smith zu.
»Aber ich verstehe immer noch nicht, wie das gehen soll«, sage ich. »Also, wenn das verlorene Jahr für alle um uns stattgefunden hat, nur für Sie und mich nicht, war das Jahr dann überhaupt wirklich? Hat es stattgefunden oder nicht? Und was ist mit der Vergangenheit, die man zurückgelassen hat? Verschwindet man ganz daraus oder lebt man an zwei Orten gleichzeitig?«
»Jenny, ich habe mir über dreißig Jahre lang die gleichen Fragen gestellt. Ich weiß, dass man nicht ganz und gar aus der Vergangenheit verschwinden kann. Sonst hätten sie, als ich an meinem fünfzehnten Geburtstag wieder aufgetaucht bin, doch seit zwölf Monaten nach mir suchen lassen müssen! Und ich weiß, dass das nicht der Fall war.«
»Aber wenn ich nicht verschwunden war, warum bin ich dann nicht zum verabredeten Zeitpunkt bei Juli aufgetaucht?«
Mrs Smith schüttelt den Kopf. »Es kann hundert verschiedene Antworten auf diese Frage geben. Vielleicht verschwindet man ja doch, für kurze Zeit, während man von einer Zeitebene in die andere reist. Oder vielleicht sind wir beide einfach in die Zeitschiene gerutscht, die immer da war und immer da sein würde, und keiner ist von irgendwo verschwunden. Vielleicht fängt die Vergangenheit irgendwie wieder an, wenn man in der Zukunft landet.«
»Die Vergangenheit mit all den Einzelheiten, über die wir nie Bescheid wissen werden, weil wir einfach nicht dabei waren, um sie zu erleben«, füge ich hinzu.
»Genau. Die Wahrheit könnte sogar sein, dass die Jenny von vor einem Jahr von jemandem aufgehalten wurde, ehe sie zu der Verabredung erschien«, fährt Mrs Smith fort.
»Ja. Vielleicht bin ich zehn Minuten abgelenkt worden, und als ich zu Julis Apartment kam, war es zu spät, und sie waren schon ohne mich losgefahren«, grübelte ich.
»Tatsache ist …« Mrs Smith zögert einen Moment.
»Dass ich es nie erfahren werde«, beende ich den Satz für sie.
»Ich glaube, so ist es«, stimmt sie mir zu. »Genauso wenig, wie ich je erfahren werde, was in meinem verlorenen Jahr passiert ist. Aber ich erzähle dir noch etwas anderes, das ich außerdem entdeckt habe. Es spielt keine Rolle! Es wird immer einige Fragen geben, die man beantworten kann, und einige, auf die wir keine Antwort haben und die einen verrückt machen, wenn wir an ihnen dranbleiben. Es gibt nicht auf alle Fragen eine Antwort, Jenny – und selbst die, die wir beantworten können, erklären sich unserem einfachen menschlichen Verstand nicht immer.«
Sie hat recht. Genau zu verstehen, wie und warum das alles passiert ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass es passiert ist. Es ist Mrs Smith passiert; es ist mir passiert. Und so kompliziert und unmöglich das Ganze ist, im Kern gibt es nur eine einfache Wahrheit. Wir beide sind in einer Zukunft gelandet, die wir gerne verändern würden.
Mir dreht sich der Kopf. Ich möchte ihr so viele Fragen stellen. Ich will, dass ihre Geschichte ein gutes Ende hat.
»Haben Sie ihn jemals wiedergesehen?«, frage ich.
»Nie. Es war zu spät. Er wollte mich nicht. Mir war nur eines klar: Seiner Meinung nach hatte ich ihn abgewiesen und dann auch noch versucht, ihn mit einer lächerlichen Geschichte zum Narren zu halten. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er mir nicht geglaubt hat. Aber ich habe mir immer wieder gewünscht, er würde es tun.«
»Was geschah dann?«
»Ich geriet in solch eine Verfassung, dass meine Eltern die Ferien abbrachen. Ich habe ihnen den Ort für immer vermiest.«
»Sie sind also nie wieder
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