Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
gesehen?
Vor dem verzierten Spiegel klopfe ich mir den Staub ab. Einen Augenblick lang kommt es mir seltsam vor, mich wieder als die alte zwölfjährige Jenny zu sehen. Die Kleider sind mir zu weit. Mein Haar ist wieder so wie es war, offen und in langen Locken.
Ich reiße mich von meinem Spiegelbild los und konzentriere mich. Ich muss ruhig bleiben. Ich finde einen Weg. Ich kann alles ändern; ich habe genug Zeit.
Ich gehe zum Apartment zurück und mache einen Plan. Ich muss mir nur etwas ausdenken, ehe wir abreisen.
Ich habe bis Ende der Woche Zeit, um auf etwas zu kommen.
Der Fernseher plärrt, als ich die Tür zum Apartment aufmache.
»Craig, wie oft muss ich es dir noch sagen? Stell ihn AB!«, übertönt Dad das Getöse.
»Wo bist du abgeblieben?«, frage ich Craig. Er hockt im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden und repariert eines seiner Autos, nebenher sieht er fern.
»Was?« Er sieht mich verwirrt an.
Dad kommt aus der Küche. »Was vergessen?«, ruft er.
»Hä?«
Er trocknet sich die Hände ab und kommt ins Wohnzimmer. »Du verpasst sie, wenn du dich nicht beeilst«, sagt er.
»Wen verpasse ich?«
Dad lacht. »Wen wohl? Oder willst du doch nicht reiten gehen?«
Mir wird ganz kalt im Gesicht und im Nacken, und mein Mund erstarrt zur Maske. »Reiten?«, sage ich langsam.
»Alles in Ordnung, Schätzchen?« Dad sieht mich besorgt an. Mum kommt ins Zimmer. Die dicke, runde Mum im achten Monat. »Du bist so blass geworden.«
»Mum«, stoße ich hervor und drehe mich um. Dann sehe ich Dad wieder an. »Was ist heute für ein Tag?«, frage ich mit heiserer Stimme.
»Den ganzen Tag schon Sonntag«, sagt Dad. »Zumindest, als ich das letzte Mal nachgesehen habe.« Er streckt Mum den Arm hin. Sie lächelt und streicht mit der Hand darüber.
Es hat geklappt! Ich habe die Zeit zurückgestellt. Der Fahrstuhl – er ist ja nicht wieder ganz bis zum Erdgeschoss hochgefahren. Das muss der Grund sein. Ich bin einen Tag zurückgefahren! Einen Tag. Ich sehe auf die Uhr. Es ist zehn vor zwei. Am Sonntag! Ich habe also noch Zeit!
»Ich muss los!«, sage ich erschrocken.
»Oje, wo brennt’s denn?«, fragt Dad. »Immer langsam mit den jungen Pferden.« Er dreht sich nach Mum um. »Hast du das gehört? Immer langsam mit den jungen Pferden. Sollte ich mir vielleicht gleich notieren.«
Mum lächelt ihm nachsichtig zu.
Ich renne zur Tür. »Mum«, sage ich und drehe mich noch mal um, ehe ich hinausgehe.
Sie blickt auf.
Ich hole Luft. Wie soll ich das jetzt formulieren, damit sie auf mich hört? »Lass es heute ruhig angehen«, sage ich. »Bitte pass auf dich auf. Keine Hektik, keinen Stress.«
Mum lacht. »Stress? Ich bin doch im Urlaub!«
»Nee, wirklich«, schärfe ich ihr ein. »Ich meine es ernst. Pass gut auf dich auf, ja? Ich möchte nicht, dass du ins Kerzenmuseum gehst. Bitte. Es wird zu viel für dich.«
»Ein Kerzenmuseum soll zu viel für mich sein? Jenny, ich bin doch nur schwanger, nicht …«
»Bitte, Mum. Du bist nicht einfach nur schwanger, du bist im achten Monat und musst dich schonen. Bitte.«
Mum streift mich mit einem Blick, als würde sie mich nicht kennen. Tja, sie kennt mich auch nicht mehr. Sie hat noch nie eine Tochter gehabt, die so energisch auftritt und anderen sagt, was sie tun sollen!
»Also gut«, sagt sie schließlich. »Du hast recht. Ich fühle mich wirklich ein bisschen schlapper, als ich zugegeben habe. Vielleicht sollte ich mich ein bisschen schonen. Craig spielt sicher auch gerne hier.«
»Gut. Und Dad, du musst deine Squash-Stunde absagen.«
Dad macht ein entsetztes Gesicht. »Absagen?«
»Dad! Es ist wichtig. Komm schon, wir wissen doch alle, dass du gar nicht gut Squash spielst«, sage ich mit breitem Grinsen, damit er weiß, dass ich das nicht böse meine. Er muss auf mich hören. »Dad, du musst dableiben und dich um Mum kümmern – und du musst uns nach dem Reiten abholen. Bitte.«
Dad sieht Mum an. »Weißt du, was? Ich glaube, sie hat sogar recht«, sagt er und streicht Mum über den Bauch. »Ein Squash-Spiel ist momentan wirklich nicht das Wichtigste in meinem Leben. Ich rufe Mr Andrews gleich an und sage ihm Bescheid.«
Erleichtert atme ich auf und überlege, ob es noch etwas gibt. Ich muss vorbereitet sein für alle Eventualitäten. »Und noch was, Dad – komm rechtzeitig, okay – eher zu früh.«
»Warum?«
Hinter dem Rücken überkreuze ich die Finger und hoffe, dass niemand meine Lüge merkt. »Juli hat gesagt, sie hören immer ein
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