Ein Jahr voller Wunder
den Sehnen, die seine Handrücken durchzogen. Seths Mutter lag zu Hause im Sterben. Aber Seth war hier und wurde mit jedem Tag stärker.
Als ich meine Lösung noch einmal überprüfte, fiel mir auf, dass Seths falsch war, und ich empfand einen stechenden Beschützerinstinkt für ihn. Ich wollte sie verbessern oder etwas sagen, aber er hatte seine Kreide schon auf die Ablage gelegt und ging zurück zu seinem Platz.
Durch das offene Fenster hörten wir das Kreischen eines Feuerwehrautos, das irgendwohin raste. Einen Augenblick später fuhr ein zweites in die gleiche Richtung los. Aber das waren die normalen Geräusche unserer Schultage. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich eine Feuerwache. Den ganzen Tag heulten Sirenen. Anfangs hatte mich das gestört, all diese Notfälle von Fremden, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Das ging uns allen so.
Der Wandel in der Luft war zuerst kaum wahrnehmbar: ein Verblassen. Es war das Gefühl, das man bekam, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schob.
»Da draußen passiert was Komisches«, sagte Trevor von hinten. Er hatte mit einem Metallkompass gespielt, ließ ihn aber nun mit einem Klirren auf das Pult fallen. »Irgendwas echt Komisches.«
»Wenn du etwas zu sagen hast, Trevor, dann melde dich bitte vernünftig«, sagte Mrs Pinsky. Sie bereitete gerade den Rest der Stunde auf einer Folie vor. Eine kühlere Brise war aufgekommen. Ich hörte das Quietschen ihres Stifts auf dem Plastik, das Summen des Overheadprojektors. Sie verwendete lieber die alte Technik statt der Computer, die alle anderen Lehrer mittlerweile benutzten.
»Ach du Scheiße«, sagte Adam Jacobson, dessen Pult dem Fenster am nächsten stand. »Du große Kacke.«
»Reiß dich zusammen, Adam«, sagte Mrs Pinsky.
Auch in den benachbarten Klassenzimmern wurden jetzt Stimmen laut.
»Seht euch das mal an«, sagte Adam. »Es wird dunkel.«
Sämtliche Fenster lagen auf einer Seite des Raums, und wir alle rannten jetzt auf diese Seite wie Gegenstände, die über das Deck eines Schiffs mit Schlagseite rutschen. Über die Köpfe der größeren Kinder konnte ich nicht viel sehen, aber ich bemerkte das sich verändernde Licht. Eine seltsame Düsterkeit zog heran wie ein Gewitter, doch das war kein Gewitter. Der Himmel war wolkenlos. Der Himmel war klar.
Der Rest passierte schnell – in dreißig Sekunden.
»Geht auf eure Plätze zurück«, befahl Mrs Pinsky. Aber niemand gehorchte. »Ich sagte, geht auf eure Plätze.«
Dann trat sie hinaus, um selbst zu sehen, was los war. Als sie zurück ins Klassenzimmer kam, schaltete sie auf Notfallmodus.
»Also gut«, sagte sie. »Gut. Ruhe bewahren. Bleibt alle ganz ruhig.«
Sie schnappte sich die Pfeife und das Megaphon, den Generalschlüssel und das Walkie-Talkie. Das war die Ausrüstung für Brandschutzübungen und Erdbebenübungen und Übungen für den Fall, dass ein Amokläufer an unserer Schule das Feuer eröffnete.
Sämtliche Farben des Spektrums waren zu einigen düsteren Grautönen zusammengefallen. Im Klassenzimmer herrschte jetzt Fahlheit. Es war das Licht der letzten winzigen Momente eines Tages, der schmale Zeitkeil unmittelbar nachdem die Sonne untergegangen ist, aber bevor man eine Lampe anknipst. Ein plötzlicher Sonnenuntergang – in Hochgeschwindigkeit. Es war 13:25 Uhr.
Kinder kamen aus den Zimmern, zuerst tröpfelnd, dann in Strömen.
Jemand umfasste mein Handgelenk. Ich blickte auf. Fassungslos stellte ich fest, dass es Seth war, seine scharfen Gesichtszüge sahen in dem Zwielicht noch schöner aus.
»Komm mit«, sagte er. Das Gefühl seiner Handfläche auf meiner Haut war wie ein Stromschlag. Mein Magen flatterte: Selbst in dem Augenblick bemerkte ich sie, die schwitzige Wärme seiner Hand von meinem Arm.
Zusammen stürmten wir nach draußen.
»Kommt zurück«, sagte Mrs Pinsky, aber niemand hörte auf sie. Sie wiederholte es, dieses Mal durch das Megaphon. Nicht ein einziges Kind drehte sich zu ihr um. Wir rannten in alle Richtungen, die meisten von uns den grasbewachsenen Hügel hinter dem Schulgelände hinauf.
Innerhalb weniger Sekunden war es so dunkel wie in der Abenddämmerung und wurde noch dunkler. Der Himmel nahm ein brackiges Abendblau an. Ein orangefarbenes Glühen umgab den gesamten Horizont.
Seth und ich warfen uns ins Gras, wir ahnten, dass es sicherer war, flach zu liegen.
»Vielleicht war es das«, sagte er. Ich glaubte, eine freudige Erregung in seiner Stimme gehört zu haben.
Überall um uns herum schrien
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