Ein Jahr voller Wunder
irgendwo auf der Erde.
»Meine Kette.« Ich wandte mich Michaela zu. »Wo ist meine Kette?«
Aber Michaela hörte mich nicht. Sie war bereits in ein Gespräch auf ihrem Handy vertieft.
»Ich sag es euch«, erzählte Trevor. »Das ist Armageddon.«
Vorher hatte es mich nicht groß gekümmert, aber an jenem Tag kam es schlagartig ans Licht: Hanna war meine einzige echte Freundin in der Schule. Ich brauchte sie.
In der Schule wurden wir angewiesen, die Glocke nicht zu beachten, da das gesamte, jetzt irrige, Klingelsystem von der Zeit abgekoppelt war.
Ohne den Anstoß der Morgenglocke wurden wir ziellos und unpräzise. Kinder ließen sich in diese oder jene Richtung treiben wie ein sich verschiebender Vogelschwarm. Die Masse war wilder als sonst, schwieriger zu hüten. Wir waren laut und überdreht. Ich versteckte mich am Rande der Gruppe, während Lehrer vergeblich versuchten, uns zu bändigen. Ihre dünnen Stimmen wurden vom Meer unserer eigenen übertönt.
Dies war die Mittelschule, Jahre voller Wunder, die Phase, in der Kinder zehn Zentimeter im Laufe eines Sommers wuchsen, in der Brüste aus dem Nichts erblühten, in der Stimmen brachen und absackten. Unsere ersten Makel traten zutage, wurden aber korrigiert. Eine verschwommene Sicht konnte unbemerkt durch die Zauberkunst der Kontaktlinse ausgebessert werden. Schiefe Zähne wurden mit Spangen gerade gezurrt. Pickelige Haut konnte chemisch gereinigt werden. Manche Mädchen wurden schön. Einige Jungs wurden groß. Ich wusste, dass ich immer noch wie ein Kind aussah.
Inzwischen war der Nebel weggebrannt und hatte einen hellen, klaren Himmel zurückgelassen. Im Wind flatterten Flaggen am Fahnenmast der Schule.
Durch die vorderen Reihen der Kinder waberte ein starkes Gerücht. Dieselben Kanäle hatten davor die Neuigkeiten der verbotenen Erkundungen von Drew Costellos Fingern und der Akrobatik von Amanda Cohens Zunge, des in Steven Galletas Rucksack gefundenen Gefrierbeutels voller Marihuana und – etwas später dann – die Einzelheiten über Steven Galletas Alltag im Erziehungscamp von Mount Cuyamaca verbreitet. Inmitten dieses üblichen Bodensatzes trieb jetzt noch eine andere Art von Gemunkel, dessen Quellen ähnlich zweifelhaft waren: Im Jahre 1562 hatte ein Wissenschaftler namens Nostradamus vorausgesagt, dass die Welt an genau diesem Tag untergehen würde.
»Ist das nicht gruselig?«, fragte Michaela und stupste mich mit der Schulter an.
Ich wollte flüchten. Ich wollte mich in der Menge verkriechen, aber ich hatte Angst, von Michaelas Seite zu weichen.
»Wahrscheinlich war der so was wie ein Medium oder so«, sagte sie.
Man konnte immer noch die Dehnungsstreifen auf meinem T-Shirt von dem Zwischenfall an der Bushaltestelle erkennen.
»Hey.« Sie sah sich um. »Wo ist eigentlich Hanna?«
»In Utah«, sagte ich. Ich bekam die Worte kaum heraus. »Ihre ganze Familie ist sofort losgefahren.«
Ich stellte mir Dutzende von Cousins vor, die in der Wüste von Utah in rund um einen riesigen Getreidespeicher stehenden Autos schliefen.
»Ach du Schande«, sagte Michaela. »Für immer, oder was?«
»Ich glaube schon.«
»Komisch«, sagte sie.
Dann bat Michaela mich, meine Geschichtshausaufgabe abschreiben zu dürfen.
»Ich habe nicht gedacht, dass wir heute Schule hätten. Deshalb hab ich sie nicht gemacht.«
Aber ich wusste, dass Michaela schon früher in diesem Jahr das Hausaufgabenmachen eingestellt hatte. Sie entwickelte gerade andere Fähigkeiten. Es gab viel über die Pflege von Haut und Haar zu lernen. Es gab eine richtige Art, eine Zigarette zu halten. Mädchen wussten nicht von Geburt an, wie man jemandem einen runterholte. Ich gab ihr meine Hausaufgaben, wann immer sie fragte.
In Naturkunde bastelten wir neue Sonnenuhren statt derer, die wir in der ersten Schulwoche gebaut hatten. Ich war froh, in einem Klassenzimmer voller Kinder zu sitzen, von denen keines an der Bushaltestellte gewesen war.
»Anpassung ist ein notwendiger Teil der Natur«, sagte Mr Jensen, nachdem er die neuen Gradeinteilungen ausgeteilt hatte. Beim Sprechen verschränkte er unablässig die Hände und löste sie wieder. »Das alles ist vollkommen natürlich.«
Wir mühten uns damit ab, Zahnstocher in nasse Tonklumpen zu stecken. Der Trick war, den Zahnstocher in exakt dem richtigen Winkel einzusetzen. Es war jetzt schon klar, dass die meisten unserer Sonnenuhren eine nutzlose, schlampige Zeit anzeigen würden.
»Denkt an die Dinosaurier«, fuhr er fort. »Sie sind
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