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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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nicht an ihrer Krankheit sterben. Im Jahr zuvor hatte sie noch Brownies für den Kuchenbasar gebacken und Geld für Mrs Sandersons Weihnachtsgeschenk gesammelt. Sie war so aktiv geblieben, dass es aussah, als wäre ihr Krebs einfach nur ein Merkmal, mit dem sie lebte, wie Übergewicht oder graue Haare.
    Die Farbe kehrte in den Himmel zurück, langsam aber sicher, wie das Gesicht eines Menschen sich nach einer Ohnmacht erholt.
    »Ich gehe zu den Army Rangers, wenn ich groß bin«, sagte er. »Das ist die Elitetruppe der Armee.«
    »Cool«, sagte ich.
    Leute stiegen wieder in ihre Autos. Hupen wurden gedrückt. Hunde bellten weiter. Manche Kinder liefen zurück in ihre Klassenzimmer. Andere gingen einfach weg, vom Schulgelände herunter und in die Welt hinein, zu zappelig, um irgendwelche Regeln oder Programme zu befolgen.
    Seth und ich blieben auf dem Hügel liegen. Ein Schweigen dehnte sich zwischen uns, aber es war ein unverkrampftes Schweigen. Wir waren einander ähnlich, dachte ich, von der stillen, nachdenklichen Sorte.
    Ich beobachtete ihn dabei, wie er den Himmel beobachtete. Eine leicht aussehende Federwolke glitt von Westen heran, die erste und einzige Wolke des Tages. Ich wollte etwas Wichtiges und Wahres sagen.
    »Das mit deiner Mutter tut mir sehr leid«, sagte ich.
    »Was?« Er drehte mir das Gesicht zu. Er wirkte entgeistert.
    Plötzlich war es schwer, ihm in die Augen zu sehen. Also ließ ich es. Ich blickte einfach wieder hinauf in den Himmel.
    »Es tut mir nur leid, dass sie krank ist«, sagte ich. »Das muss wirklich schlimm sein.«
    Seth setzte sich auf und wischte sich die Handflächen an der Jeans ab.
    »Was zum Teufel weißt du schon davon?«, sagte er.
    Jetzt stand er auf. Die Sonne war beinahe wieder voll, und sie war zu hell, um sie anzusehen – sein Gesicht war im Licht schwer zu erkennen.
    »Du weißt gar nichts über meine Mutter.« Seine Stimme brach. »Sprich nicht von ihr. Sprich nie über meine Mutter. Sprich nie wieder von ihr.«
    Ich spürte jedes Wort als einzelnen Stich.
    Ich wollte mich entschuldigen, aber ich war zu benommen. Seth ging bereits weg, lief schnell vom Schulgelände und hinaus in die Welt. Ich sah ihm nach, als er die Straße überquerte; er wirkte wütend und draufgängerisch, wich den Autos aus, entfernte sich weiter und weiter von mir.
    Inzwischen hatte der Himmel wieder sein normales Nachmittags-Gesicht angenommen, sein kühnstes, blaustes Blau. Ich setzte mich auf und bemerkte, dass ich allein auf dem Hügel war.
    Langsam ging ich zurück zum Matheunterricht. Unterwegs begegnete ich Michaela. Sie lief mit einer Gruppe älterer Kinder, die ich nicht kannte, zum Tor des Schulgeländes.
    »Wir gehen zum Strand«, sagte sie zu mir.
    »Was ist mit der nächsten Stunde?«, fragte ich. Sobald diese Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie.
    Michaela lachte.
    »Mein Gott, Julia«, sagte sie. »Hast du schon mal irgendwas Verbotenes in deinem Leben getan?«
    An diesem Nachmittag wurde das Fußballtraining abgesagt. Meine Mutter holte mich von der Schule ab. Sie kochte vor Wut.
    »Warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
    Ich stieg auf den Beifahrersitz und knallte die Tür zu, sodass die ausgelassenen Stimmen aus den Schulbussen mit einem Schlag verstummten.
    »Es war nur eine Sonnenfinsternis.« Ich schnallte mich an und lehnte mich zurück, während meine Mutter losfuhr.
    »Du hättest drangehen müssen«, sagte sie. »Du hättest mich zurückrufen müssen.«
    Die Klimaanlage dröhnte. Meldungen über die Sonnenfinsternis drangen aus dem Autoradio.
    »Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte meine Mutter mit lauter werdender Stimme, während wir in einer stockenden Wagenschlange darauf warteten, dass die Schülerlotsen uns aus dem Parkplatz winkten.
    Ich beobachtete einen Schwarm Kinder durch die Windschutzscheibe. Sie wirkten plötzlich weit weg dort draußen auf dem Schulhof. Ich strich mit dem Finger über das Glas. Diese Kinder, begriff ich unvermittelt, waren nicht meine Freunde. Keins von ihnen.
    »Hanna ist nach Utah gezogen«, sagte ich. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich das bereits seit zwei Tagen, aber meiner Mutter gegenüber erwähnte ich es zum ersten Mal.
    Sie drehte sich zu mir um. Ihre Miene wurde weicher. Ein roter Mercedes quetschte sich an unserem Wagen vorbei.
    »Sie ist umgezogen?«
    Ich nickte.
    »Ach, Julia.« Sie drückte meine Schulter. »Wirklich? Bist du sicher, dass es auf Dauer ist?«
    »So hat sie es gesagt.«
    Wir fuhren Richtung

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