Ein Jahr voller Wunder
ausgestorben, weil sie sich nicht an eine veränderte Umwelt anpassen konnten.«
Mr Jensen hatte einen Pferdeschwanz und einen Bart. Er trug viel Batik. Er fuhr mit dem Fahrrad zur Schule, und es ging das Gerücht, er koche sich seine Mahlzeiten auf den Bunsenbrennern hinten im Klassenzimmer und schlafe in einem Schlafsack unter dem Lehrerpult. Jeden Tag trug er Wanderschuhe im Unterricht. Er sah aus, als könnte er monatelang nur mit einem Kompass und einem Taschenmesser und einer Feldflasche in der Wüste leben.
»Aber natürlich«, ergänzte er und faltete die Hände, »sind wir ganz anders als die Dinosaurier.« Ich merkte, dass er hoffte, er würde uns keine Angst einjagen, aber das war ja der springende Punkt: Wir Kinder fürchteten uns nicht so sehr, wie wir sollten. Wir waren zu jung, um Angst zu haben, zu versunken in unsere Miniaturwelten, zu überzeugt von unserer eigenen Dauerhaftigkeit.
Konkurrierende Gerüchte behaupteten, Mr Jensen sei in Wirklichkeit Millionär, oder er habe etwas Wichtiges für die NASA erfunden und unterrichte jetzt nur noch aus Freude am Unterrichten. Er war mein Lieblingslehrer in jenem Jahr, und ich wusste, dass er mich auch mochte.
An diesem Tag stellte er eine Frage-und-Antwort-Box auf, damit wir uns anonym erkundigen konnten, was vor sich ging.
»Es gibt keine dummen Fragen«, sagte er, während er unsere Zettel mit der umfunktionierten Kleenex-Schachtel einsammelte.
Es war dieselbe Schachtel, die wir an dem Tag benutzt hatten, als die Mädchen von den Jungs getrennt wurden und die Schulkrankenschwester kam, um uns Mädchen auf unsere Zukunft vorzubereiten. »Etwas ganze Besonderes wird mit euch passieren«, hatte sie langsam gesagt, wie eine Wahrsagerin, die aus der Hand liest. »Es leitet sich aus dem lateinischen Wort für Monat ab, weil es einmal im Monat vorkommen wird, genau wie der Mondzyklus.« Nur Tammy Smith und Michelle O’Connor waren abseits geblieben und wissend auf ihren Stühlen herumgerutscht, weil ihre Körper bereits im Einklang mit dem Mond waren.
Nun griff Mr Jensen in die Schachtel und zog eine Frage. Mit großer Sorgfalt klappte er das Stück Papier auf. »Stimmt es«, las er, »dass ein Wissenschaftler vorausgesagt hat, dass die Welt heute untergeht?«
»Nostradamus war nicht unbedingt ein Wissenschaftler«, sagte Mr Jensen. Offenkundig hatte er das Gerede gehört, das in den Fluren die Runde machte. »Ihr alle wisst, dass niemand die Zukunft vorhersagen kann. Kein Mensch kann sagen, was morgen passieren wird, und erst recht nicht in fünfhundert Jahren.«
Die Schulglocke ertönte. Aber wir blieben alle auf unseren Hockern sitzen. Der Mittagsgong stimmte mit unserem Ablauf nicht mehr überein.
Draußen blieb der Himmel hell. Sonnenlicht strömte durch die Fenster herein, fing sich in den Reihen von sauberen Messbechern und Reagenzgläsern, die im Regal wie Weingläser funkelten.
Mr Jensen zog eine weitere Frage aus der Schachtel: Jemand wollte wissen, ob die Verlangsamung von Umweltverschmutzung herrühren könne.
Diese Frage schien ihn zu bedrücken.
»Wir wissen noch nicht, warum das geschieht«, sagte Mr Jensen.
Er nahm seine Brille ab und rieb sich mit dem Handrücken die Stirn. Dann blieb er neben dem Aquarium stehen, das seit September leer war, als das Filtersystem unvermittelt ausgefallen war. Es war an einem Wochenende passiert. Montagmorgen hatten wir fünf Fische wie Blätter auf der Oberfläche treibend gefunden. Man konnte das Blut unter den Schuppen auf ihren kleinen Körpern sehen. Das Wasser sah für unsere Augen immer noch klar aus, aber für Fische war es giftig geworden.
»Der Mensch hat diesem Planeten großen Schaden zugefügt«, sagte Mr Jensen, während wir uns wieder der Arbeit an unseren Sonnenuhren zuwandten. »Menschen sind schuld an der globalen Erwärmung und der Zerstörung der Ozonschicht und dem Aussterben tausender Pflanzen und Tierarten. Aber es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob wir auch diese Veränderung verursacht haben.«
Vor dem Ende der Stunde aktualisierte Mr Jensen unsere Sonnensystemwand, auf der das Weltall ordentlich von sechs Metern schwarzem Tonpapier und neun Tonpapierplaneten dargestellt war. Außerdem gab es auf unserer Karte eine Sonne und einen Alufolienmond. Über die Ecken verstreut steckten bunte Pinnwandnadeln, die für all die noch nicht entdeckten Planeten standen. Angeblich gab es tausende davon dort oben. Millionen vielleicht sogar. Es erstaunt mich heute noch, wie wenig
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