Ein Jahr voller Wunder
Kinder. Ich hörte jemanden schluchzen. Fotohandys klickten und flimmerten in der Schwärze. Wir konnten die Sterne am Himmel sehen.
Auf der Straße neben dem Schulgelände hatten etliche Autos angehalten. Fahrer standen auf dem Asphalt, Wagentüren waren aufgeklappt wie Flügel, Scheinwerfer brannten in der Dunkelheit. Aller Augen waren auf den Himmel gerichtet. Ein kühler Nachtwind wehte nun über die Wiese.
Am Fuße des Hügels brüllte Mr Jensen aus der Tür des Labors. Er winkte. Ich konnte ihn durch das Geschrei der Menge nicht verstehen, aber ich sah, dass er außer sich war. Wenn selbst Mr Jensen in Panik geriet, wie sollten wir übrigen dann ruhig bleiben?
Seth tastete nach meiner Hand, unsere Finger verflochten sich. Ich hatte noch nie so mit einem Jungen Händchen gehalten. Ich bekam fast keine Luft.
Mein Handy brummte in meiner Tasche. Ich hoffte, es wäre vielleicht Hanna, aber als ich sah, dass es meine Mutter war, ließ ich es klingeln.
»Was, wenn wir jetzt und hier sterben?«, flüsterte Seth. Er klang ernst. Ängstlich wirkte er nicht.
Während die Sekunden verstrichen, wurden wir alle stiller, zum Schweigen gebracht von der Dunkelheit und der kalten Luft. Mir wurde bewusst, dass dutzende von Hunden bellten und in ihren Gärten heulten. Minuten vergingen. Die Temperatur sank immer weiter.
Ein unbestimmtes Gebet rutschte mir aus dem Mund: Bitte, bitte lass uns das überstehen .
An jenem Tag unterschieden wir uns kein bisschen von unseren Vorfahren, wir hatten Todesangst vor unserem eigenen weiten Himmel.
Heute wissen wir, dass die Dunkelheit vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden dauerte, aber sie schien sich viel länger auszudehnen. Die Zeit verstrich anders in jenen ersten Tagen. Wären die Aufzeichnungen nicht – hunderte von Menschen filmten das Ereignis –, würde ich nach wie vor schwören, dass mindestens eine Stunde verging, bevor wieder der erste Lichtschimmer am Himmel auftauchte.
»Schau mal«, hörte ich Seth sagen. »Schau. Schau.«
Ein Hauch von Helligkeit breitete sich über unseren Köpfen aus, ein Sonnensplitter kehrte zu uns zurück wie durch ein Wunder. Jetzt konnten wir ihren ganzen Umriss erkennen, einen dünnen Lichtkreis mit einer blendenden Ausbuchtung auf einer Seite, wie ein Diamant auf einem Ring.
Mr Jensen hastete durch die Menge. Als er uns erreichte, verstanden wir endlich, was er gerufen hatte.
»Hört mir zu«, sagte er. »Das ist nur eine Sonnenfinsternis. Ganz harmlos. Es ist nur der Schatten des Mondes, der vor der Sonne vorbeizieht.«
Wie wir in den folgenden Stunden erfahren würden, hatte Mr Jensen Recht: Eine totale Sonnenfinsternis war für die Mitte des Pazifiks erwartet worden. Sie hätte eigentlich nur von Schiffsdecks und von einer Handvoll dünn besiedelter Inseln aus sichtbar sein sollen. Doch die Verlangsamung hatte die Koordinaten aller kommenden Sonnenfinsternisse verschoben – früher hatte man sie alle vorausberechnet, jede einzelne auf die Minute und das Jahrzehnt erfasst. Diese hatte uns überrascht. Die Finsternis erschien über einem breiten Streifen der westlichen Vereinigten Staaten.
Erleichterung durchströmte meinen ganzen Körper. Alles war gut. Und ich lag auf einer Wiese bei Seth Moreno.
Seth schien enttäuscht.
»Das ist alles?«, fragte er. »Es war nur eine Sonnenfinsternis?«
Wir blieben zusammen auf dem Hügel und beobachteten die Rückkehr der Sonne. Nebeneinander blinzelten wir, mit dem Rücken auf dem Gras. Ich war ihm so nah, dass ich die Haare auf seinem Unterarm erkennen konnte.
»Wünschst du dir manchmal, du könntest ein Held sein?«, sagte er.
»Wie meinst du das?«
»Eines Tages möchte ich jemandem das Leben retten.«
Ich dachte an seine Mutter. Mein Vater hatte mir einmal erklärt, was genau Krebs war, dass er fast nie aufgab, dass man jede einzelne Zelle davon abtöten musste. Und man konnte nie vollkommen sicher sein, gewonnen zu haben. Er konnte immer zurückkommen. Und meistens war es auch so.
»Ich möchte vielleicht Ärztin werden«, steuerte ich bei. Das stimmte nur halb. Ich wusste nicht, ob ich tun könnte, was mein Vater tat. Ich wusste nicht, ob ich das ganze Blut und die Traurigkeit aushalten würde.
»Immer, wenn ich in einer Bank bin«, sagte Seth, »hoffe ich irgendwie, dass ein Räuber mit einer Waffe reinkommt und dass ich derjenige bin, der ihn überwältigt und alle anderen rettet.«
Eine Zeitlang, und aus der Ferne, hatte es den Anschein gehabt, als würde Seths Mutter
Weitere Kostenlose Bücher