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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Schnellstraße. Ich konnte spüren, dass meine Mutter mir beim Fahren Blicke zuwarf. Sie stellte das Radio leiser.
    »Das tut mir leid«, sagte sie. »Wahrscheinlich kommen sie zurück.«
    »Glaube ich nicht.«
    »Im Moment haben die Leute Angst. Weißt du? Sie denken nicht klar.«
    Als wir nach Hause kamen, entdeckten wir, dass die Mülltonnen, die mein Vater am Morgen an den Bordstein gerollt hatte, immer noch überquollen. Der Müllmann war nicht zum Abholen aufgetaucht, aber die Ameisen und Fliegen waren emsig. Der Vogel lag immer noch dort drinnen. Wir zogen die Tonnen zurück in den Garten und luden die Einkäufe aus dem Auto. Meine Mutter hatte mehrere Kartons Konservendosen gekauft, sechs Kanister Trinkwasser. Sie befürchtete, dass Engpässe bevorstanden – und sie war nicht die Einzige, die das glaubte.
    An jenem Abend behauptete mein Vater, er habe sofort begriffen, dass die Sonnenfinsternis nichts weiter als eine Sonnenfinsternis war.
    »Willst du mir etwa erzählen, dass du keine Sekunde lang Angst hattest?«, fragte meine Mutter.
    »Eigentlich nicht.« Er band sich die Schuhe auf der Treppe auf. »Ich wusste, was es war.«
    Die Abendnachrichten wurden von der Geschichte beherrscht und berichteten über eine Handvoll Sonnenfinsternisbegeisterte, die vor dem Einsetzen der Verlangsamung auf eine abgelegene Pazifikinsel gereist waren, eines der wenigen Fleckchen festen Boden, von dem aus man annahm, das Schauspiel erleben zu können. Diese Leute hatten teure Kameraausrüstungen in ihrem Gepäck gehabt, Spezialfilter für das Fotografieren von schwindenden Sonnen. Aber ihre Geräte blieben unbenutzt in den gepolsterten Koffern. Ihre Spezialfilter waren überflüssig, ihre Schutzbrillen steckten zusammengefaltet in Brusttaschen – die Sonnenfinsternis traf stattdessen die Westküste.
    Am Abend verliefen die Baseball-Playoffs ohne Unterbrechung – im Angesicht der Ungewissheit weiterzuspielen schien das einzig Amerikanische. Aber das Spiel an jenem Abend war schrecklich. Es war mühsamer denn je, der Schwerkraft zu trotzen. Niemand war an die physikalischen Gegebenheiten gewöhnt. Sieben Werfer wurden aufgestellt. Niemand traf. Mit jeder neuen Stunde wurde jedes Stückchen Materie auf der Erde stärker und stärker von der Schwerkraft gefesselt.
    Auch der Börsenmarkt unterlag dem Anschein nach diesem Abwärtssog, denn er war auf ein Rekordtief gefallen. Der Ölpreis hingegen schnellte nach oben.
    Als ich an jenem Abend ins Bett ging – wobei ich mir alle Mühe gab, den Schultag aus meinem Gedächtnis zu löschen –, hatten wir weitere dreißig Minuten hinzugewonnen. Alle Fernsehsender hatten mittlerweile ununterbrochene Laufzeilen eingeblendet, die statt Aktienkursen die wachsende Dauer eines Tages auf der Erde meldeten: 26 Stunden, 7 Minuten, Tendenz steigend.

6
    D ie Tage vergingen. Immer mehr Menschen verließen unsere Vorstadt. Sie flohen dahin, wo sie herkamen, und das hier war Kalifornien – fast jeder war von irgendwoher zugewandert. Aber meine Familie blieb. Wir stammten von hier. Wir waren zu Hause.
    Am dritten Tag fuhren meine Mutter und ich nach der Schule zu meinem Großvater.
    »Er sagt, es geht ihm gut«, erzählte meine Mutter im Wagen. »Aber ich möchte mich vergewissern.«
    Er war der Vater meines Vaters, aber es war meine Mutter, die sich die meisten Sorgen um ihn machte. Ich hatte inzwischen auch etwas Angst um ihn – er lebte ganz allein draußen im Osten.
    Unterwegs hielten wir an einer Tankstelle und sahen eine lange Reihe von Autos, die vor den Zapfsäulen warteten. Dutzende von Minivans und SUVs bildeten eine Schlange, die sich über den Parkplatz hinaus und um die nächste Straßenecke wand.
    »Du liebe Güte«, sagte meine Mutter. »Das sieht ja aus wie in einem Kriegsgebiet.«
    Eine Frau in einem geblümten rosa Kleid eilte zwischen den Autos herum und klemmte orangefarbene Flugblätter unter Wischerblätter, während die Passagiere nicht hinsahen: Das Ende ist da! Bereut und rettet euch!
    Ich wich ihrem Blick aus, als sie vorbeikam, so gehetzt und so überzeugt, aber sie suchte meinen, blieb an meinem Fenster stehen und rief durch die Scheibe: »›Zur selben Zeit, spricht Gott der Herr, will ich die Sonne am Mittag untergehen und das Land am hellen Tage finster werden lassen.‹«
    Meine Mutter verriegelte die Türen.
    »Ist das aus der Bibel?«, fragte ich.
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    Wir schoben uns ein Stückchen vorwärts. Ich hatte vor uns neunzehn Wagen in der

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