Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
wir über das Universum wussten.
    Auf dem Schild über der Erde notierte Mr Jensen statt 24 Stunden nun 25:37 , aber er schrieb die neue Zahl nur auf ein Post-it, so dass wir sie erneut aktualisieren konnten, falls nötig.
    Die Klassenräume waren den ganzen Tag halb leer oder, je nach Auffassung, halb voll. Dutzende von Pulten blieben unbenutzt, Anwesenheitslisten weitgehend ungeprüft. Es war, als wären bestimmte Kinder tatsächlich von der Erde hoch in den Himmel gesaugt worden, wie manche Christen erwarteten, und hätten uns andere zurückgelassen, uns Kinder von Wissenschaftlern und Atheisten und den einfach weniger Frommen.
    Unsere Lehrer versuchten, uns davon abzuhalten, während des Unterrichts die Nachrichten zu verfolgen, aber ein Kind hatte ein Radio, und wir alle besaßen Handys.
    Überall auf der Welt brachen bereits die ersten Fälle von Schwerkraftkrankheit aus. Hunderte von Menschen litten unter Symptomen wie Schwindel, Schwächeanfällen und Erschöpfung. In Sport drückten sich ein paar Kinder darum, die übliche Meile zu laufen, indem sie sich die Bäuche hielten und über Übelkeit und mysteriöse Schmerzen klagten. »Ich kann nichts dafür«, sagten sie. »Es ist die Krankheit.«
    Die Lehrer taten, als machten sie sich keine Sorgen. Aber in der Mittagspause sahen sie sich alle im Lehrerzimmer die Nachrichten an. Wir konnten ihre Mienen dabei beobachten, die müden Augen, die gerunzelten Stirnen, die nackte Furcht im Gesicht.
    Seth Moreno sah ich erst wieder in der fünften Stunde. Wir hatten Mathe zusammen. Er war auf den Platz genau vor meinem gesetzt worden, und ich freute mich jeden Tag darauf, ihm nahe zu sein. Ich kannte alles an diesem Hinterkopf – den Wirbel seiner Haare, die Form seines Ohrs, den geraden, kantigen Kiefer. Ich mochte, dass er sogar am späten Nachmittag noch nach Seife roch.
    Wir redeten nie miteinander. Ich hatte noch nicht einmal seinen Namen laut ausgesprochen, nicht einmal Hanna gegenüber. »Ach, komm«, hatte sie oft in der Dunkelheit unseres Wohnzimmers geflüstert, wenn wir beide tief in unsere Schlafsäcke gekuschelt waren. »Da muss doch jemand sein.« Aber ich schüttelte immer den Kopf und log. »Nein«, flüsterte ich zurück. »Niemand.«
    Wochenlang hatte ich gehofft, Seth würde in meine Richtung schauen, aber nicht heute. Er hatte an der Bushaltestelle zu viel gesehen.
    Mrs Pinsky versuchte, die Verlangsamung zum Unterrichtsthema zu machen. Auf die Tafel hatte sie mit Kreide die tägliche Mathe-Denksportaufgabe geschrieben: Die Dauer eines Tages hat sich innerhalb von zwei Tagen um 90 Minuten verlängert. Wir lang wäre ein Tag auf der Erde bei einer gleichmäßigen Zunahme in zwei Tagen? Und wie lang in drei Tagen? In einer Woche?
    »Müssen wir das machen?«, maulte Adam Jacobson, der auf seinem Stuhl lümmelte. Er stellte diese Frage jedes Mal.
    »Das Einzige, was ihr im Leben müsst, ist sterben«, sagte Mrs Pinsky. Das war eine ihrer Lieblingsredensarten. »Alles andere könnt ihr euch aussuchen.«
    Mrs Pinsky war morbid und einschüchternd. Wenn ein Kind in ihrer Stunde Schluckauf bekam, rief sie es zu sich ans Pult. Bis man vorne im Raum ankam, war der Schluckauf immer weg – die Methode funktionierte genauso zuverlässig wie jeder andere jähe Schreck.
    »Schreibt nicht nur das Ergebnis auf, sondern auch den Weg dahin«, sagte sie, während sie zwischen den Pulten auf und ab lief. Die Falten ihres orangefarbenen Kleides streiften die Chrombeine unserer Stühle. »Und nicht raten. Benutzt eure Algebra.«
    Die Wände ihres Klassenzimmers waren mit aufmunternden Postern gepflastert: Sag niemals nie, Erwarte das Unerwartete, Das Unmögliche ist möglich .
    Mrs Pinsky rief einige von uns an die Tafel, um unsere Lösungen aufzuschreiben. Seth und ich waren unter den Auserwählten, und wir standen Seite an Seite, während wir unsere Rechnungen aus den Heften an die Tafel übertrugen. Ich weiß noch, dass mir sein zum Schreiben hochgereckter rechter Arm neben mir bewusst war und dass seine Zahlen sich nach rechts und nach unten neigten, als seine Kreide über die Tafel kratzte. Der feste braune Teppich fühlte sich unter meinen Füßen abgetreten an. Dreißig Jahrgänge von Sechstklässlern hatten an ebendieser Stelle ihre Aufgaben ausgerechnet.
    Seth klopfte zwei Schwämme gegeneinander. Der Staub brachte ihn zum Niesen. Selbst sein Niesen war liebenswert. Er hatte wundervolle Hände. Man konnte die Kraft in seinen Handgelenken sehen, in den Adern und

Weitere Kostenlose Bücher