Ein Jahr voller Wunder
Offenbarung sind seit Jahren da«, sagte er. »Seit der Wiederherstellung Israels wussten wir, dass sie kommt.«
Als die Straße eine Kurve machte, konnte ich einen Streifen schimmerndes Meer durch eine Lücke in den Hügeln vor uns sehen. Mittlerweile waren sämtliche direkt am Strand gelegenen Häuser evakuiert worden – niemand wusste, wie sich die Gezeiten entwickeln würden.
Draußen flitzten Wohnviertel an den Fenstern vorbei, die Häuser und die Grundstücke wurden immer kleiner, je näher wir der Küste kamen. In Meernähe war das Land so wertvoll, dass manche Häuser über die Ränder von Canyons hingen, auf einer Seite abgestützt von riesigen Pfählen.
Wir hielten an einem Stoppschild, und während meine Mutter den Kopf von rechts nach links drehte, um zu sehen, ob die Straße frei war, bemerkte ich die schmale graue Linie, die manchmal durch ihre Haare verlief, wo der Ansatz sich durch die dunkle Färbung zeigte. Sie war mit fünfunddreißig grau geworden, und ich sah es nie gern, dieses früheste Anzeichen ihres körperlichen Verfalls.
In dem Moment spürte ich eine Welle der Einsamkeit. Vielleicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, als der Wagen mit einem Ruck anfuhr, dass ich, wenn meiner Familie irgendetwas zustieße, ganz allein auf der Welt wäre.
Wir kamen am Festplatz vorbei. Der Jahrmarkt war für die kommende Woche angekündigt. Hanna und ich hatten vorgehabt, am Eröffnungstag hinzugehen, aber daraus würde nichts.
Normalerweise arbeiteten die Bauarbeiter jeden Tag ohne Pause, um die Fahrgeschäfte in Gang zu bekommen. Aber ich sah aus dem Auto, dass die Vorbereitungen eingestellt worden waren. Ich dachte mir, die Arbeiter und die Schausteller seien ebenfalls in ihre Heimatstädte geflohen – jeder wollte bei seiner Familie sein. Nun standen die Achterbahnen halb aufgebaut, bunte Skelette im Wind. Die unfertige Wasserrutsche bot einen Selbstmordsprung. Auch das Riesenrad war nur zum Teil aufgestellt: eine einsame rote Gondel baumelte an einer einzelnen Speiche wie die letzte Frucht des Sommers oder das einzig verbliebene Herbstblatt.
7
E ine Zeit lang fühlten sich die Tage immer noch wie Tage an. Die Sonne ging auf, und sie ging auch unter. Auf Dunkelheit folgte Licht. Ich erinnere mich an das kühle Anschwellen des Vormittags, das bedächtige Brennen des Nachmittags, die Schwerfälligkeit der Dämmerung. Das Zwielicht dehnte sich stundenlang aus, bis es endlich in Nacht überging. Die Zeit schlich träge vorbei, wurde im Verstreichen langsamer und langsamer.
Mit jedem neuen Morgen kamen wir weiter aus dem Tritt. Die Erde drehte sich weiter, und die Uhren tickten weiter, aber sie hatten nicht mehr das gleiche Tempo. Innerhalb einer Woche fiel Mitternacht nicht mehr unbedingt auf eine dunkle Nachtstunde. Die Uhren konnten mitten am Tag auf neun Uhr stehen. Der Mittag landete manchmal im Sonnenuntergang.
Es waren chaotische, improvisierte Tage.
Jeden Morgen verkündeten die offiziellen Stellen die über Nacht gewonnenen Minuten, wie Regentropfen, die in Töpfen aufgefangen werden. Die Mengen schwankten wild, und wir wussten nie, womit wir zu rechnen hatten. Unser Schulbeginn wurde jeden Tag bei Sonnenaufgang festgelegt – er war immer unterschiedlich, und ich erinnere mich daran, morgens mit meiner Mutter die Nachrichten im Lokalsender verfolgt und abgewartet zu haben, für welche Zeit sie sich entscheiden würden.
Immer mehr Kinder hörten auf, zur Schule zu gehen.
Zusätzliche Stunden entsprangen aus den Ritzen zwischen den Arbeiterschichten. Flugzeuge blieben tagelang am Boden, und Züge wurden auf den Gleisen gestoppt, bis neue Verbindungsabläufe entworfen und umgesetzt werden konnten. Fahrpläne mussten jeden Tag weggeworfen und neu erdacht werden.
Wir arrangierten uns. Wir passten uns an. Wir behalfen uns.
Meine Mutter füllte unsere Schränke langsam mit Notvorräten. Sie häufte sie nach und nach an, eine steigende Flut von Kondensmilch und Konservenerbsen, Trockenfrüchten und Marmelade, vier Dutzend Dosensuppen. Inzwischen kam sie nie ohne ein Päckchen Batterien unter dem Arm oder eine Schachtel Kerzen oder weitere in Plastik oder Alu verschweißte Trockennahrung nach Hause – das Unverderbliche, das Unendliche, das niemals Verfallende.
Unterdessen trainierte mein Fußballteam wie üblich, und die Schauspielschüler meiner Mutter probten weiterhin ihre Macbeth-Inszenierung. Im ganzen Land wurden solche Veranstaltungen überwiegend wie vorgesehen abgehalten. Die
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