Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
Shows mussten weitergehen. Wir klammerten uns an alles, was vorher geplant worden war. Etwas abzusagen schien unmoralisch oder hätte bedeuten können, dass wir aufgegeben oder die Hoffnung verloren hatten.
    Neue Minuten tauchten überall auf. In jenen Tagen war die Zeit schwerer zu vergeuden. Das Tempo des Lebens verlangsamte sich.
    Manche sagen, die Verlangsamung habe uns noch auf tausend andere, unbestätigte Arten beeinflusst, von der Lebenserwartung einer Glühbirne bis hin zu der Geschwindigkeit, mit der Eis schmilzt und Wasser kocht und menschliche Zellen sich vermehren und menschliche Zellen absterben. Manche sagen, dass unsere Körper in den Tagen unmittelbar nach dem Einsetzen der Verlangsamung weniger schnell alterten, dass die Sterbenden länger zum Sterben, die Kinder länger zum Geborenwerden brauchten. Es gibt tatsächlich Hinweise darauf, dass die Menstruationszyklen sich in jenen ersten zwei Wochen minimal ausdehnten. Aber zum größten Teil gehörten diese Vorgänge ins Reich der Anekdoten, nicht der Wissenschaft. Physiker würden einem sogar erklären, dass wenn überhaupt das Gegenteil der Fall hätte sein müssen: Derjenige, der im fahrenden Zug sitzt, erlebt die Zeit langsamer – und nicht umgekehrt. Soweit ich es beurteilen konnte, wuchs das Gras noch wie immer, schimmelte das Brot in unserem Brotkasten im normalen Tempo und reiften die Äpfel an Mr Valencias Apfelbaum nebenan wie jeden Herbst und fielen dann auf den Boden und verfaulten in der Wiese mit, dem Anschein nach, herkömmlicher Geschwindigkeit.
    Und die ganze Zeit tickten die Uhren weiter. Armbanduhren schlugen unbeirrt schwache Schläge. Die antiken Standuhren meines Großvaters läuteten ihr uraltes Läuten. In allen Städten Amerikas erklangen die Kirchenglocken zu jeder vollen Stunde.
    Eine Woche verging, dann zwei. Jedes Mal, wenn bei uns das Telefon klingelte, hoffte ich, es wäre Hanna. Sie hatte immer noch nicht angerufen.
    Der Strom neuer Minuten floss weiter. Unsere Tage dauerten schon bald an die dreißig Stunden.
    Wie kurios uns die alte 24-Stunden-Uhr allmählich vorkam, wie unmöglich klar umrissen mit ihren Zwillingsabschnitten von je zwölf, so akkurat wie Walnussschalen. Wie hatten wir, fragten wir uns, an solche viel zu einfachen Dinge glauben können?

8
    I n der zweiten Woche nach dem Beginn der Verlangsamung geschah etwas mit den Vögeln.
    Man fand Tauben, die mit hängenden Flügeln und über den Asphalt schleifenden Federn auf dem Bürgersteig herumkrochen. Spatzen stürzten auf Wiesen. Gänseschwärme legten große Entfernungen zu Fuß zurück. An den Stränden wurden Möwenkadaver angeschwemmt. Tote Tiere lagen auf unseren Straßen und unseren Dächern, auf unseren Tennisplätzen und Fußballfeldern. Die Vögel des Himmels fielen auf die Erde. Es passierte auf der ganzen Welt.
    Eigentlich sollte man das Ordnungsamt anrufen, wenn man einen fand, aber mein Vater weigerte sich. Es seien zu viele, sagte er, deshalb warfen wir sie einfach weg, wie den ersten damals von unserer Terrasse.
    An diese Vögel erinnere ich mich so gut wie an alles andere aus dieser Zeit: an die verwesenden Federn und die Rosinenaugen, an die Flüssigkeiten, die Flecken auf unseren Straßen hinterließen.
    Sylvia, meine Klavierlehrerin, hielt Finken. Sie waren klein und dick, und sie wohnten in einem glockenförmigen Metallkäfig in einer Ecke des Wohnzimmers. Dort verbrachte ich jeden Mittwochnachmittag eine halbe Stunde, in der ich Klavierspielen lernte – ziemlich erfolglos. Und dort saß, nur Minuten nach mir, auch Seth Moreno; sein Unterricht folgte immer unmittelbar auf meinen, seine Finger streiften dieselben Tasten wie meine, seine Füße drückten dieselben Pedale, die meine Füße erst so kurz zuvor gedrückt hatten. Oft schwebte die Vorstellung von ihm über meiner gesamten Stunde. Aber an diesem Tag waren es die Finken, die mich ablenkten: Ich horchte bei jedem Geräusch, das sie machten, auf Anzeichen der Krankheit.
    »Du hast nicht geübt, oder?«, fragte Sylvia. Ich hatte mich langsam, stockend an Für Elise versucht.
    Sylvia saß mit mir auf der glänzend schwarzen Bank, ihre schmalen, nackten Füße standen neben den Messingpedalen. Sie trug ein weißes Leinenkleid und um den Hals eine Kette aus großen Holzperlen. Ich mochte ihr Aussehen. Sie war zwei Arten von Lehrerin; sie unterrichtete auch Yoga im Jugendzentrum.
    »Ein bisschen schon«, sagte ich.
    So begannen meine Stunden immer. Hätte ich gewusst, dass ich nicht

Weitere Kostenlose Bücher