Ein Jahr voller Wunder
Benzinschlange gezählt.
»Wo wollen die alle hin?«, fragte meine Mutter. Sie rieb sich die Stirn und stieß die Luft aus. »Wohin kann man denn fahren?«
Mein Großvater wohnte mitten in einer Luxussiedlung. Sein altes Haus war ein Bollwerk gegen die neuen. Sobald wir die Schnellstraße verlassen hatten, fuhren wir durch ein Netz von frischen schwarzen Straßen, die an jeder Ecke von einem schimmernden weißen Zebrastreifen durchschnitten wurden. Die Stoppschilder waren neu. Die Holperschwellen waren neu. Alles hier war neu. Bordsteine behielten scharfe, unabgestoßene Kanten. Hydranten blieben glänzend und rostfrei. Junge Bäume säumten in gleichmäßigen Abständen die Bürgersteige – und die Bürgersteige blitzten buchstäblich. Alle Häuser hatten Rasen wie dichte Haarschöpfe.
Inmitten dieser ganzen Neuheit hielt sich hartnäckig das staubige Grundstück meines Großvaters, unsichtbar wie ein Fleck dunkle Materie: Seine Existenz bemerkte man, weil die Straßen einen Bogen darum machten, aber man konnte es von außen nicht sehen. Man spürte es nur. Der Bauunternehmer der umliegenden Siedlung hatte dichte Kiefern auf allen Seiten um den Garten meines Großvaters pflanzen lassen, damit die Nachbarn sein Haus nicht ansehen mussten.
Nun fuhren wir durch das offene Holztor, wo der glatte Asphalt unter unseren Reifen in groben Kies überging und die sorgfältig angelegten Grünflächen der Neubausiedlung der natürlichen Landschaft dieser Gegend wichen: rau und trocken, karg und braun und reizlos. Mein Vater war zu einer Zeit auf diesem Land aufgewachsen, als es hier Hühner und Pferde gab. Aber das letzte Pferd war längst gestorben, und jetzt stand der Stall da wie ein Relikt aus einer versunkenen Epoche. Die hölzernen Zaunpfosten und Querbalken verblichen in der Sonne. Im Hühnerstall gab es keine Hühner mehr. Mein Großvater war sechsundachtzig Jahre alt. All seine alten Freunde waren tot. Seine Frau war tot. Er war verbittert über seine eigene Langlebigkeit.
»Du solltest hoffen, dass du meine Gene nicht geerbt hast, Julia«, sagte er oft zu mir. »Es ist ein Fluch, zu lange zu leben.« Ich mochte an ihm, dass er immer genau das sagte, was er dachte.
Jahre vorher hatte das Bauunternehmen versucht, den Grund meines Großvaters zu kaufen. Doch der weigerte sich. »Verdammt noch mal«, sagte er. »In dem Boden liegen Sachen begraben.« Ich wusste mit Sicherheit, dass mindestens zwei Katzen draußen hinter dem Holzstapel bestattet waren, und ich vermutete, er hatte noch gewisse andere Wertgegenstände im Laufe der Jahre dort vergraben. Das Bauunternehmen führte seine Pläne einfach ohne ihn aus, legte um ihn herum Straßen und Fundamente an, errichtete Häuser und Straßenschilder zu allen Seiten seines Grundstücks. Das neue Viertel stieg um das Land meines Großvaters herum an wie Flutwasser um eine Anhöhe.
Meine Mutter und ich gingen ohne zu klopfen in die Küche. Wenn man sich in diesem Haus bewegte, klapperten die Regale leise, auf jeder Oberfläche wackelte Krimskrams. Mein Großvater saß in einem roten Sweatshirt am Tisch, vor sich die Zeitung und eine Lupe.
»Hallo Gene«, sagte meine Mutter jetzt. »Wie geht’s dir?«
»Ich hab dir am Telefon schon gesagt, dass es mir gut geht«, sagte er ohne aufzublicken. »Chip war hier.«
Chip war ein Nachbar, ein Teenager, der ihm im Haus half. Chip trug jeden Tag schwarze T-Shirts und schwarze Jeans, und ein Lippenring war an dem leichten Hängen seiner Unterlippe schuld. Die beiden waren ein ungleiches Paar, aber ich glaube, Chip hasste die Siedlung genauso wie mein Großvater, obwohl er mit seinen Eltern in einem der neuen Häuser wohnte.
»Das ist sowieso Quatsch«, sagte mein Großvater.
»Was ist Quatsch?«, fragte meine Mutter.
»Das ist doch nur ein Trick, um uns vom Mittleren Osten abzulenken.«
Er hatte unglaublich hellblaue Augen, wie die meines Vaters, nur noch heller, und sie schienen mit dem Alter noch mehr zu verblassen, wie Stoff, der zu lange in der Sonne liegt. Hin und wieder fielen ihm ein paar weiße Strähnen auf die Stirn.
»Ach komm schon, Gene. Wie sollte jemand das alles fälschen?«
»Ich mein ja nur, woher weißt du, dass es stimmt? Hast du nachgemessen? Die können doch heutzutage alles machen.«
»Gene …«
»Wart’s nur ab. Die haben sich da was zurechtgebastelt. Sie pfuschen an den Uhren rum, oder was weiß ich. Ich sage ja bloß, ich glaub es nicht. Keine Sekunde lang.«
Das Handy meiner Mutter klingelte,
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