Ein Jahr voller Wunder
mehr oft auf dieser Bank sitzen würde, hätte ich mir vielleicht etwas mehr Mühe gegeben.
»Wie willst du jemals besser werden, wenn du nicht übst?«
Einer von Sylvias Finken schrie in dem Käfig in der Ecke auf. Sie sangen weniger, als sie kreischten, jedes Zwitschern klang wie das jähe Quietschen eines rostigen Scharniers.
Anfangs zögerten die Behörden, das Sterben der Vögel in Zusammenhang mit der Verlangsamung zu bringen. Es gebe keine Beweise, hieß es, dass die beiden Phänomene miteinander zu tun hätten. Experten verwiesen stattdessen auf die gängigeren Ursachen, wie zum Beispiel Krankheiten: Vogelgrippe, eine weltweite Pandemie. Aber die Tests auf sämtliche bekannten Erreger waren negativ ausgefallen.
Natürlich brauchten wir, das Volk, keine weiteren Beweise. Wir glaubten nicht an Scheinkorrelationen. Reinen Zufall lehnten wir ab. Wir wussten, dass die Vögel wegen der Verlangsamung starben, aber genau wie die Verlangsamung selbst konnte niemand erklären, warum.
»Du solltest jetzt erst recht viel üben«, sagte Sylvia, während sie ihre Handfläche sanft auf meinen Rücken drückte, um ihn gerade zu machen. Meine Haltung zerfloss im Verlauf der Unterrichtsstunde immer. »Die Kunst blüht in Zeiten der Ungewissheit.«
Die Idee mit den Klavierstunden hatte meine Mutter gehabt. Ich mochte das Instrument nicht sonderlich, aber ich mochte Sylvia und ich mochte ihr Haus, das zwar das gleiche Modell wie unseres, für mich aber im Inneren nicht wiederzuerkennen war. Statt Teppichen erstreckten sich Holzfußböden in den Räumen. Grüne Zimmerpflanzen gediehen in jedem Winkel. Sylvia hielt nichts von Chemikalien oder Klimaanlagen. Ihr Haus roch nach Tee und Vogelfutter und Räucherstäbchen.
»Ich spiele es einmal durch«, sagte Sylvia. »Und du machst bitte die Augen zu und merkst dir, wie es klingen soll.«
Sie stellte das Metronom auf ein bestimmtes Tempo, und ein gleichmäßiger Fluss von Ticktacks setzte ein.
Sie begann zu spielen.
Ich versuchte zuzuhören, konnte mich aber nicht konzentrieren: Ich machte mir Sorgen um die Finken. Sie wirkten stiller als sonst, und sie sahen etwas weniger dick aus. Beide waren nach musikalischen Fachausdrücken benannt, und der, der Forte hieß, schien auf seiner Stange zu schwanken, die verhornten orangefarbenen Krallen unsicher und wackelig. Der Kleinere, Adagio, hockte auf der Zeitung auf dem Käfigboden.
Weltuntergangspropheten deuteten das Vogelsterben als einen weiteren Vorboten des Untergangs. Am selben Morgen hatte ich einen korpulenten Fernsehprediger darüber in einer Talkshow reden hören. In seinem Verständnis handelte es sich bei dieser Vogelseuche um eine Warnung Gottes, und es war nur eine Frage der Zeit, wann die Krankheit auf Menschen übergreifen würde.
»Deine Augen sind offen«, sagte Sylvia. Sie war immer aufrichtig überrascht, wenn ich sie enttäuschte. Das machte einen Teil ihres Charmes aus.
»Entschuldigung«, sagte ich.
Sie ertappte mich dabei, den Vogelkäfig zu beäugen.
»Keine Angst«, sagte sie. »Haustiere befällt es nicht, nur wilde.«
Zu diesem Zeitpunkt stimmte das, doch den Geflügelzüchtern des Landes war geraten worden, ihre Bestände auf merkwürdige Symptome zu beobachten.
Die Experten waren sich uneinig, was das Syndrom verursachte. Manche gaben der leichten Veränderung der Schwerkraft die Schuld. Vielleicht beeinträchtigte sie den Gleichgewichtssinn und behinderte dadurch Flug und Orientierung. Oder es war ein Problem mit dem Biorhythmus; das Gefühl der Vögel für Tag und Nacht war durch den Wandel gestört und brachte ihren Stoffwechsel völlig durcheinander. Sie hatten keine Ahnung mehr, wann sie schlafen und wann sie essen sollten. Sie verhungerten, oder sie litten an Schlafmangel und waren dadurch verwirrt und weniger wachsam.
Aber die echten Vogelexperten, die Ornithologen, schwiegen: Es sei noch zu früh, um etwas zu sagen.
»Denen geht es gut«, sagte Sylvia. »Stimmt’s, meine Kleinen?«
Die Finken blieben still. Das einzige Geräusch war das schwache Klopfen einer winzigen Kralle, die sich durch eine Schicht Zeitungspapier bohrte.
Etwas Ähnliches war dem Anschein nach den Bienen zugestoßen – nur ein paar Jahre vor der Verlangsamung. Millionen von Honigbienen waren gestorben. Man fand Stöcke verlassen vor, unerklärlich leer. Ganze Kolonien hatten sich in Luft aufgelöst. Niemand hat die Ursache dieses Untergangs je schlüssig dargestellt.
»Soll ich dir sagen, was ich glaube?«,
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