Ein Jahr voller Wunder
tief rein«, forderte er mich auf. »Spürst du das?«
»Was?« Ich steckte bis zur Schulter in dem Schrank. Das Linoleum drückte sein Paisleymuster in meine Kniescheiben. Ich wünschte, ich könnte aufhören zu suchen, aber ich wollte ihn nicht enttäuschen.
»Das ist eine doppelte Rückwand, merkst du?«, sagte er. »Schieb sie nach rechts.«
Im Haus meines Großvaters war in einer Müslischachtel nie Müsli; Suppendosen enthielten praktisch immer eine Substanz, die wertvoller als Suppe war. Kein Wunder, dass er so stark an unsichtbare Mächte glaubte. Hinter der doppelten Rückwand des Schranks stand eine Reihe Kaffeedosen, so alt, dass ich die Etiketten nicht erkannte.
»Die Folgers-Dose«, sagte er. »Gib sie mir.«
Er zerrte am Deckel und krümmte sich. Er schien schwächer als sonst.
»Lass mich das machen«, sagte ich.
In meinen Händen ging der Deckel leicht ab, doch ich versuchte – ihm zuliebe – es aussehen zu lassen, als wäre es schwerer. Die Dose war vollgestopft mit mehreren Schichten zerknüllter Zeitung. Ganz unten befand sich eine kleine silberne Schachtel, in der auf einem Bett aus steifem Samt eine angelaufene goldene Taschenuhr lag. Die Kette schlängelte sich hinter dem Zifferblatt herum.
»Die hat mal meinem Vater gehört«, sagte er. »Du kannst sie aufziehen, und dann zeigt sie die Zeit an. Die hält ewig. Die Zahnräder sind Qualitätsarbeit. So haben sie früher die Sachen gemacht, gute Qualität, weißt du? Ich wette, du hast überhaupt noch nie was gesehen, was so gut gemacht ist wie die da.«
Ich wollte die Uhr nicht. Sie käme nur zu dem Haufen anderer Gegenstände, die mein Großvater mir geschenkt hatte, alle uralt und fremd: nie in Umlauf gewesene Gedenksilberdollars in Plastikhüllen, vier Paar der alten Ohrklipps meiner Großmutter, gerahmte Landkarten unserer Stadt, wie sie vor einhundert Jahren ausgesehen hatte. Aber er bestand darauf, und ich konnte ihm nicht gestehen, dass ich das einzige Erbstück verloren hatte, das ich wirklich liebte: Ich hatte die Erde an der Bushaltestelle nach meiner Nuggetkette abgesucht, sie aber nirgendwo finden können.
»Danke«, sagte ich, die Uhr in der Hand haltend. »Die ist hübsch.«
»Noch hübscher wäre sie, wenn du sie polierst.« Er rubbelte mit dem Ärmel seines Sweatshirts über das Zifferblatt. »Pass gut drauf auf, Julia.«
Die Fliegengittertür knallte, und meine Mutter kam in die Küche. Sie bemerkte die Taschenuhr in meiner Hand. »Ach, Gene, verschenk doch nicht deine ganzen Sachen.«
»Lass sie sie behalten«, sagte er. »Ich kann sie ja nicht mitnehmen.«
»Du gehst doch nirgendwohin«, sagte sie.
Er winkte ab.
»Und nimm das hier auch«, flüsterte mein Großvater mir zu, als wir gingen. Er gab mir einen Zehndollarschein. Ein schnelles Lächeln huschte über sein Gesicht, ein seltener und kostbarer Anblick. Ich konnte den Rand seines künstlichen Gebisses auf dem Zahnfleisch sehen.
»Mach was Schönes damit«, sagte er.
Ich quetschte seine Hand und nickte.
»Und Julia«, sagte er. »Glaub nicht alles, was du hörst, ja? Du bist ein kluges Mädchen. Du kannst zwischen den Zeilen lesen.«
Auf dem Rückweg fuhren wir den Weg, den wir immer als die Panoramastrecke bezeichneten, kleinere Landstraßen mit weniger Verkehr. Wir hörten Nachrichten im Radio. Reporter aus der ganzen Welt beschrieben die Reaktionen vor Ort. Aus Südamerika kamen weitere Berichte über Schwerkraftkrankheit. Die Gesundheitsbehörde stellte Nachforschungen an.
»Großer Gott«, sagte meine Mutter. »Sag Bescheid, wenn dir nicht gut ist.«
»Diese Krankheit scheint sich auf manche Menschen stärker auszuwirken als auf andere«, sagte ein Regierungsbeamter. Ich bildete mir ein, mir wäre schwindlig, während ich zuhörte. »Der Name dieser Krankheit ist Paranoia.«
In unserem eigenen Land trafen laut Radio Scharen von wiedergeborenen Christen ihre letzten Vorbereitungen, in der Hoffnung, sie könnten jeden Augenblick aus ihren Betten gerufen werden und nur leere Häuser und zerknüllte Kleidung zurücklassen, wo einst ihre Körper gewesen waren.
»Ich kapier das nicht«, sagte ich. »Warum sollten die Kleider nicht mit einem kommen?«
»Keine Ahnung, Schätzchen«, sagte meine Mutter. »Du weißt, dass wir nicht an so was glauben.«
Wir waren eine andere Art von Christen, die ruhige, vernünftige Art, eine Sorte, der die Erwähnung von Wundern peinlich war.
Jetzt interviewten sie einen Fernsehprediger im Radio: »Die Zeichen der
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