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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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und ich merkte an ihrer Stimme, dass mein Vater dran war. Sie ging hinaus, um mit ihm zu reden. Ich setzte mich an den Tisch – es war derselbe Tisch, an dem mein Großvater und ich früher stundenlang Schwarzer Peter gespielt hatten, aber seine Augen waren zu schlecht geworden, um die Karten erkennen zu können. Mir fehlte, wie es damals gewesen war.
    »Na, Julia«, sagte mein Großvater. »Siehst du hier irgendwas, das du haben möchtest?«
    Er deutete mit einer ausladenden Geste auf die Regale mit antikem Glas, die Reihen von verwitterten hundert Jahre alten Colaflaschen, das silberne Teeservice meiner Großmutter, ihre Sammlung von Fingerhüten und winzigen Silberlöffeln, die Zinn- und Porzellanfigürchen, die sie in einem anderen, besseren Jahrzehnt auf Spitzendeckchen aufgestellt hatte.
    »Ich kann nichts davon mitnehmen, weißt du«, fuhr er fort. »Such dir lieber jetzt aus, was du haben willst, denn wenn ich tot bin, wird Ruth versuchen, sich alles unter den Nagel zu reißen.«
    Ruth war die jüngere Schwester meiner Großmutter. Sie lebte an der Ostküste.
    »Nein, danke, Opa«, sagte ich. Ich hoffte, er würde nicht bemerken, dass ich meine abhandengekommene Goldnuggetkette nicht trug. »Du solltest deine Sachen behalten.«
    Vor der Arthritis war er jeden Morgen mit einem Metalldetektor an den Strand gegangen und hatte in den Dünen nach Münzen und Schätzen gesucht. Aber inzwischen wollte er unbedingt seine Sachen abgeben, als fesselte ihn das Gewicht seiner Besitztümer an diese Welt, und indem er sie verschenkte, könnte er die Stricke zerschneiden.
    Nun stand er auf und schlurfte zum Schrank, um sich eine weitere Tasse Kaffee zu holen. Einen Moment lang blieb er am Fenster stehen. Meine Mutter lief dort draußen auf und ab, gestikulierte beim Telefonieren. Der Wind blies ihre Haare alle auf eine Seite, und sie strich sie sich ständig aus dem Gesicht.
    »Hab ich dir je erzählt, dass ich mal gesehen habe, wie einer da in dem Garten umgekommen ist?«
    »Ich glaube nicht«, sagte ich.
    »Der war nicht älter als siebzehn.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Pferd ist einfach über ihn drübergetrampelt.«
    »Das ist schrecklich«, sagte ich.
    »Das kann man wohl sagen.«
    Mein Großvater nickte leicht, wie um den Gedanken zu unterstreichen. Er hatte ein enormes Gedächtnis für Furchtbarkeiten. Irgendwo weiter hinten im Haus hörte ich einen Wasserhahn tropfen.
    »Das Ganze erinnert mich an damals, als ich in Alaska gearbeitet habe«, sagte er. Alaska war eins seiner Lieblingsthemen. »Im Sommer hatten wir den ganzen Tag und die ganze Nacht Sonne. Um zwei Uhr morgens schien die Sonne. Sie ging nie unter. Wochenlang nicht. Und dann im Winter war es zwei oder drei Monate durchgehend den ganzen Tag stockdunkel.«
    Er verstummte. Ich bemerkte eine Satellitenschüssel, die in der Nähe auf einem Dach wackelte, gerade eben sichtbar durch die Kiefern. Ich roch einen Hauch von Qualm in der Luft.
    »Diese ganze Sache ist Quatsch, glaub mir das«, sagte er. »Ich komm nur noch nicht dahinter.«
    »Meinst du wirklich?«
    Er sah mich mit ernstem und ruhigem Blick an.
    »Wusstest du, dass die Regierung der Vereinigten Staaten 1958 ein geheimes Atomtestprogramm genau hier in diesem County gestartet hat? Sie haben die Auswirkungen von nuklearen Materialien auf normale Menschen untersucht«, sagte er. »Sie haben Uran ins Wasser getan und dann die Krebsraten überwacht. Hast du das schon mal gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf. Irgendwo in seinem Garten lag ein verlassener unterirdischer Schutzbunker. Mein Großvater hatte ihn selbst in den Sechzigern gebaut.
    »Natürlich nicht«, sagte er. »So haben die es gern. Genauso haben die es gern.«
    Ein Windstoß pfiff hinten ums Haus und trug eine Papiertüte am Fenster vorbei.
    »Sind deine Mutter und dein Vater mit dir in der Kirche gewesen?«, fragte er.
    »Wir gehen manchmal.«
    »Ihr solltet jede Woche gehen.« Er nahm ein Paar winzige, von einer Haut aus angelaufenem Silber überzogene Stiefel in die Hand. »Möchtest du die?«
    »Nicht unbedingt«, sagte ich.
    »Das waren meine Schuhe, als ich vier Jahre alt war. Willst du denn gar nichts von den Sachen hier?«
    Ich hörte die Anstrengung seiner Lungen, das Geräusch der durch sich verengende Atemwege pfeifenden Luft.
    »Warte mal kurz. Ich weiß, was dir gefallen würde.« Er zeigte auf einen niedrigen Schrank auf der anderen Seite der Küche und sagte, ich solle mich auf den Boden knien.
    »Und jetzt greif ganz

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