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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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gehen?«
    »Na gut«, sagte er. »Von mir aus. Gehen wir.«
    Zusammen wateten wir durch das Haus zurück und in die Einfahrt. Mein Vater entdeckte eine Möwe, als wir hoch zur Straße kletterten.
    »Schau mal«, sagte er blinzelnd. Ich hatte seit Wochen keine lebendige gesehen. In dem Moment schien es wirklich verblüffend, dass es je ein Geschöpf mit der Fähigkeit zu fliegen gegeben hatte.
    Meine Jeans klebte an meinen Oberschenkeln. Das ganze Auto stank nach Salzwasser.
    »Früher warst du viel mutiger, weißt du«, sagte mein Vater, als er den Motor anließ. »Ehrlich. Du wirst langsam so schlimm wie deine Mutter.«
    Und er hatte Recht: Ich machte mir ständig Sorgen, war immer auf der Hut vor großen und kleinen Katastrophen, vor den Enttäuschungen, die ich inzwischen überall um uns herum ahnte, verborgen durch ihre Offensichtlichkeit.

15
    E s geschah in der Dunkelheit: Das Vorbeihuschen der Scheinwerfer, das rasche Zuschlagen von Autotüren, die lautlos am Ende der Straße blitzenden roten Lichter.
    Von meinem Fenster aus sah ich drei Streifenwagen in einer krummen Reihe vor Tom und Carlottas Haus parken. Meine erste Sorge war aus unerfindlichen Gründen, es wäre ein Mord geschehen. Durch das Teleskop entdeckte ich Gabbys Mutter in einem Hosenanzug, die Arme verschränkt und das Gesicht von den Lichtern rot erleuchtet, am Ende ihrer Auffahrt stehen und forschend das Nachbarhaus betrachten. Ich kniete mich auf den Teppich und wartete. Minuten vergingen. Es war vier Uhr nachmittags nach Uhrenzeit, aber es war mitten in der natürlichen Nacht. Der Himmel war schwarz und klar, der Mond zeigte sich von seiner schlanksten, zierlichsten Seite. Die Grillen summten, ein Hund bellte, eine Brise raschelte in den Eukalyptusbäumen.
    Schließlich kam eine Frau in Weiß aus dem Haus, gespensterhaft: Carlotta in einem Nachthemd, die langen grauen Haare offen über den Schultern. Neben ihr lief einer der Polizisten, er hatte den Arm auf ihren gelegt. Tom schlurfte hinter ihnen her, die weißen Haare vom Schlaf zerzaust.
    Sowohl Ehemann als auch Ehefrau trugen Handschellen.
    Erst später erfuhr die Nachbarschaft die Einzelheiten des Verbrechens. Ein Team von Polizisten schleppte am nächsten Tag drei Stunden lang dutzende von Topfpflanzen aus Tom und Carlottas Bungalow in einen riesigen weißen Lieferwagen. Die Pflanzen waren blättrig und grün, übernatürlich gesund. Sie hatten ihr ganzes Leben im Haus verbracht, bestrahlt von Wachstumslampen, die – wie wir später hörten – von den auf den Dachschrägen glitzernden Sonnenkollektoren gespeist wurden. Polizeibeamte stapften über den Rasen hin und her, packten ein, was sie konnten, schaufelten sogar den Komposthaufen in drei dicke schwarze Säcke. Als die Arbeit endlich erledigt war, bemerkte ich, dass das kleine Schild im Vorgarten umgekippt war und seine Botschaft nun in den Himmel sandte: Dieser Haushalt lebt nach Echtzeit .
    Laut einem Gerücht, das nach der Verhaftung die Runde machte, hatten Tom und Carlotta seit Jahren unentdeckt Marihuana angepflanzt. Aber die Polizei hatte vor kurzem einen anonymen Hinweis von einem Nachbarn bekommen. Das Timing warf schon die Frage auf, ob der Anrufer nicht zumindest teilweise von einer gewissen anderen Lebensentscheidung motiviert gewesen war, die Tom und Carlotta getroffen hatten. Es war nicht abzustreiten: Die Echtzeiter machten uns nervös. Sie schliefen zu oft, während wir anderen arbeiteten. Sie gingen aus dem Haus, wenn alle anderen schliefen. Sie stellten eine Bedrohung der sozialen Ordnung dar, sagten einige, die ersten kleinen Krümel eines bevorstehenden Zerfalls.
    Ich sorgte mich mehr und mehr um Sylvia.
    Unterdessen verließen die ersten Echtzeiter die Städte und Vororte. Sie tauchten gruppenweise in provisorischen Gemeinden in den Wüsten und Wäldern dieses Landes auf. In jenen Anfangstagen waren sie eine winzige, lose organisierte Minderheit, vereinzelte Schattengesellschaften, die frühesten Vertreter einer Bewegung.

16
    A nfang Dezember, drei Wochen vor Weihnachten, hatten sich die Tage auf zweiundvierzig Stunden aufgebläht. Es waren Veränderungen in den Meeresströmungen festgestellt worden. Gletscher schmolzen noch schneller als vorher. Einige seit langem untätige Vulkane hatten zu blubbern und zu dampfen angefangen. Es gab Berichte, dass Wanderwale nicht auf Wanderung gingen, sondern in kühlen nördlichen Gewässern blieben. Ein paar abtrünnige Experten gaben uns nur noch wenige Monate zu leben,

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