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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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stecken. Manchmal ging sie allein in der stillen Nacht spazieren.
    Sie wirkte noch isolierter als die anderen Echtzeiter. Sie war immer allein. Manchmal, wenn ich nicht schlafen konnte, sah ich ihr durch mein Teleskop beim Klavierspielen zu. Ich war überzeugt, in dem leichten Hängen ihrer Schultern und der mühsamen Haltung ihres Kopfs eine gewisse anhaltende Traurigkeit zu entdecken. Durch die Linse meines Teleskops sah sie einsam aus, wie einer dieser fernen Sterne, die für unser Auge zwar noch sichtbar, aber nicht mehr wirklich da waren. Sie sah sogar einsamer aus, als ich es war.
    Manche Katastrophen entwickelten sich zu Attraktionen. Mein Vater und ich fuhren hin und wieder an die Küste, um uns anzusehen, was mit den Häusern am Strand passiert war, die leer standen, seit die Verlangsamung auf mysteriöse Weise die Gezeiten verstärkt hatte. Bei Flut schwappten Wellen über die Dächer, und die Firste bildeten eine geometrische Küstenlinie, während Taucher heimlich das Innere nach Schätzen durchkämmten. Bei Ebbe tropften und knarrten diese Villen wie freigelegte gesunkene Schiffe. Es waren prächtige Gebäude, die Häuser von Filmstars und Millionären. Aber das Meer hatte sie in rasender Geschwindigkeit altern lassen. Sämtliche Fenster waren aus den Rahmen geplatzt und würden eines Tages stückchenweise am Strand angespült, glattgeschliffene Scherben, die sich mit den Muscheln vermischten.
    Die Strände waren seit der Verlangsamung gesperrt. Aber mein Vater ging gern bei Ebbe auf Erkundung.
    »Komm schon«, sagte er eines Sonntags, als ich in der Einfahrt einer verlassenen Villa zögerte. Etliche Meter Absperrband flatterten im Wind. Niemand sonst war in der Nähe. Selbst die Möwen waren fort, die Krankheit hatte sie alle weggefegt.
    Das Haus war riesig. Die Schindeln waren vom Wasser wellig geworden, und die Eingangstür fehlte. Den Großteil der Einrichtung hatten die Wellen herausgespült. Alles im Inneren war grau. Eine ganze Wand war verschwunden; das Wohnzimmer blickte aufs Meer wie eine offene Garage.
    »Sieh dir die an«, sagte mein Vater. Er war auf dem durchweichten Teppich in die Hocke gegangen, um Sandkrabben zu beobachten, die sich in den dort angesammelten Schlamm buddelten. »Möchtest du mal eine in der Hand halten?«
    Er sah aus wie ein Muschelfischer mit seiner bis zu den Knien hochgekrempelten Hose.
    »Nein, danke«, sagte ich.
    Eine extrem niedrige Ebbe hatte das Wasser an jenem Morgen mehr als hundert Meter vom Strand weggesaugt. Ich sah, dass es auf dem Rückweg war. Kleine Wellen plätscherten bereits auf die Überreste der Veranda.
    »Die Flut kommt«, sagte ich.
    »Wir haben noch Zeit«, sagte mein Vater. »Komm mit.«
    Es gab noch reichlich Leben in dem Haus. Seesterne klammerten sich an Granitplatten, und Seeanemonen wohnten in den Spülbecken.
    »Pass auf, wo du hintrittst«, sagte mein Vater, als wir durch einen Flur liefen.
    Die Fußböden waren mit Treibholz und Algen und Glasscherben übersät.
    »In dem Haus hier war ich schon mal, vor Jahren«, erzählte mein Vater. Er blinzelte im Sonnenlicht. Erst vor kurzem war mir aufgefallen, wie viele Falten sich um seine Augen bildeten, wenn er lächelte. »An Weihnachten, mit meiner damaligen Freundin. Das Haus gehörte ihren Eltern.«
    Ein schäumender Wasserschwall rauschte in den Raum. Es stand uns sofort bis zu den Knöcheln. Meine Sandalen fühlten sich unter dem Gewicht des kalten Wassers schwer an.
    »Bitte, Papa.« Ich blickte im Flur zurück. Eine Schicht Weißwasser wirbelte über die Holzdielen. Zwei Halbwüchsige waren kürzlich genau auf diese Weise in einem der alten Häuser weiter oben an der Küste ertrunken. »Können wir jetzt gehen?«
    »Hier stand ein riesengroßer Weihnachtsbaum.« Mein Vater deutete mit beiden Händen die Breite an. Er brüllte inzwischen fast, um das Wasser zu übertönen. »Und da drüben ein Flügel. Wir hätten beinahe geheiratet, meine Freundin und ich. Das war natürlich, bevor ich deine Mutter kennenlernte.«
    Mit jeder neuen Welle stieg das Wasser höher. Eine kleine Plastikflasche trieb nun im Zimmer.
    »Papa«, sagte ich. »Im Ernst.«
    »Du wirst es sehen, wenn du älter bist. Du wirst nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Es kommt mir vor, als wäre ich eben erst hier gewesen, dabei ist es zwanzig Jahre her.«
    Die Flut stand mir inzwischen bis zu den Waden. Ich spürte das starke Ziehen des Wassers auf der Haut, und es machte mir Angst.
    »Können wir jetzt bitte

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