Ein Jahr voller Wunder
von auf Asphalt knirschenden Plastikrädern, das Rattern eines den Bordstein streifenden Bretts. Mein Herz raste. Da war er: Seth Moreno.
Er stieg von seinem Brett. Er klemmte es unter den Arm.
Ich wollte ihm erzählen, dass ich von einer weiteren Walgruppe gehört hatte, die ein paar Kilometer weiter oben an der Küste gestrandet war. Aber ich wusste nicht so recht, wie ich anfangen sollte. Das hier war neu für mich, die spezielle Art der Kommunikation, die Jungen an Mädchen fesselte.
Der Bus ächzte heran, und die Kinder kletterten nacheinander die Stufen hinauf, aber ich blieb zurück, weil ich darauf wartete, dass Seth mir zeigte, wie die Dinge standen. Unsere Blicke trafen sich. Seth nickte kaum merklich.
Diesen Augenblick hatte ich stundenlang geprobt, und ich hatte hundert verschiedene Szenarien entworfen. Mr Jensen hatte einmal versucht, uns zu erklären, dass es irgendwo Paralleluniversen gäbe, unerreichbar, aber real, in denen jede Möglichkeit wahr wurde; alles, was hier nicht geschah, geschah woanders, jede Option nahm in einem separaten Universum Gestalt an. Aber in dieser Welt jedenfalls beschränkte sich das Ergebnis an jenem Morgen auf lediglich eine Version:
Seth stand eine Weile auf dem Bürgersteig, den Blick von mir abgewandt. Er lächelte nicht. Er sprach nicht. Dann ging er einfach an mir vorbei, als wären wir beide Fremde, nur zwei Kinder, die einander überhaupt nicht kannten. Er stieg in den Bus, ohne sich umzudrehen.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit danach verging – dreißig Sekunden, vielleicht mehr –, aber irgendwann wurde mir bewusst, dass der Busfahrer mich von seinem Sitz aus anbrüllte.
»Hey, du«, übertönte er das Brummen des Motors. »Fährst du mit?« Alle anderen Kinder waren mittlerweile im Bus. Ein paar starrten durch die verschmierten Scheiben auf mich herab, ein Kichern bildete sich auf ihrem Gesicht. Ich war ein Mädchen, das allein in einem cremefarbenen Mohairpulli und einem blöden Jeansrock auf der Straße stand. Das Atmen fiel schwer.
Zu spät kam mir in die Sinn, nachdem ich endlich in den Bus gestiegen war und mich vorne hingesetzt hatte, fünfzehn Reihen von Seth entfernt, dass ich in den Canyon hätte verschwinden können, und niemand hätte es bemerkt.
Die Pause zwischen den Stunden verbrachte ich auf dem Klo. Ich versteckte mich eine weitere Mittagspause in der Bücherei. Diane war wie üblich da, das goldene Kreuz um ihren Hals funkelte unter den Neonlampen. Trevor klapperte auf der Computertastatur, mit dem Spiel beschäftigt, das er immer spielte; er hielt sämtliche Highscores. Mrs Marshall räumte Bücher in die Regale zurück, wir hörten das Jaulen ihres Wägelchens, wenn sie es über den Teppich rollte, das Knistern der Zellophaneinbände, wenn sie ein Buch an seinen Platz stellte. Jedes Mal, wenn sich die Tür quietschend öffnete, hoffte ich, Seth Moreno wäre gekommen – um sich zu entschuldigen oder zu erklären.
Ein düsterer Gedanke brodelte in meinem Kopf: Vielleicht wollte er in der Schule nicht mit mir gesehen werden.
Durch die Scheibe blubberte das gedämpfte Kreischen der anderen Kinder herein, die auf dem Schulhof herumrannten. Diese Kinder gingen nie irgendwohin allein.
Christy Casteneda schlenderte am Fenster der Bücherei vorbei – sie hatte ebenfalls Geburtstag, und nicht einer, sondern zwei Ballons wiegten sich an ihrem zarten Handgelenk, jeder auf der unbedruckten silbernen Seite mit schnörkeliger, liebevoller Handschrift signiert.
In der ersten Stunde des Algebra-Grundkurses für Begabte in jenem Jahr hatte Mrs Pinsky eine sich verjüngende Säule an die Tafel gezeichnet, um zu veranschaulichen, dass ein Prozess des Aussiebens begonnen hatte. »Ihr alle wurdet fürs Erste in die Begabtenklasse aufgenommen«, sagte sie. »Aber die Anzahl der Kinder, die Mathe verstehen können, wird von jetzt an mit jedem Jahr schrumpfen.« Es war diese Zeit im Leben: Talente stiegen an die Oberfläche, Schwächen zeichneten sich allmählich ab, wir fanden heraus, welche Art von Mensch wir einmal sein würden. Manche würden schön, manche witzig, manche schüchtern werden. Manche wären schlau, andere schlauer. Die Pummeligen würden wahrscheinlich immer pummelig bleiben. Die Geliebten, ahnte ich, würden ihr Leben lang geliebt werden. Und ich hatte Angst, dass das auch für meine Einsamkeit gälte. Vielleicht war die Einsamkeit in meine Gene eingeprägt, sie hatte jahrelang geschlummert, blühte aber jetzt voll auf.
Ich tat, als
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