Ein Jahr voller Wunder
auf asphaltiertem Boden machten. »Wir auch. Mein Vater sagt, dass alle Menschen ohne es sterben würden.«
Aber an dem Tag konnte ich ihn kaum hören. Ich war mit meinen Gedanken woanders. Ich war ein bisschen verliebt. Ich hatte einen ganzen Nachmittag mit Seth Moreno verbracht.
25
D er Eukalyptusbaum kam erstmals in den 1850ern nach Kalifornien. Er wurde aus Australien importiert, die Samen überquerten achttausend Kilometer offenes Meer, ehe sie die Erde unseres Staates erreichten. Angeblich sollten die Stämme ein Wunderholz sein, perfekt für hundert unterschiedliche Zwecke, insbesondere Eisenbahnschwellen. Doch das Holz erwies sich als nutzlos. Es verzog sich beim Trocknen und splitterte, wenn man Nägel hineinschlug. Die Eukalyptusbranche des Staates ging Pleite, ehe sie je aufgeblüht war.
Aber die Bäume blieben – und sie breiteten sich aus. In meiner Kindheit waren sie überall, und auch in der Kindheit meines Großvaters. Ihre schlanken Silhouetten wiegten sich einst entlang der Küstencanyons, der Steilufer, der Fußballplätze. Ihre langen Blätter schwammen in den Swimmingpools und den Rinnsteinen. Sie trieben am Ufer von Salzwasserlagunen. Mehr als hundertfünfzig Jahre lang gedieh der Eukalyptus in Kalifornien, überlebte jede Katastrophe: Erdbeben, Dürre, die Erfindung des Automobils. Doch nun erkrankten die Bäume in Massen. Die Blätter verloren ihre Farbe. Orangefarbener Saft sickerte aus Öffnungen in den Stämmen. Nach und nach gingen sie ein.
Am Morgen meines zwölften Geburtstags lag ich im Dunklen wach und rief mir in allen Einzelheiten die Ereignisse des vergangenen Tages ins Gedächtnis: Wie Seth in die Sonne blinzelte, als wir durch den Canyon liefen, die Zärtlichkeit seiner Hand, als er die Rücken der Wale streichelte, den Klang seiner Stimme am Ende und jene Worte – bis dann –, als er sich umdrehte und auf sein Skateboard sprang, sich fest mit einem Fuß abstieß und dann seitwärts den Abhang hinunterraste, das weiße T-Shirt hinter sich im Wind flatternd. Ich musste mich wieder und wieder daran erinnern, dass es wirklich passiert war: Er hatte mich eingeladen.
Mein Zimmer war dunkel. Das Haus war still.
In ein paar Stunden würde ich Seth an der Bushaltestelle treffen, und ich wollte genau das Richtige sagen, wenn es so weit war, wollte die Worte aufspüren, die zu einem zweiten Nachmittag an seiner Seite führen würden.
Da hörte ich es: ein lautes Krachen draußen. Ich erinnere mich an das Splittern von Glas und das Kreischen von Autoalarmanlagen auf der Straße. Hastig lief ich ans Fenster und sah hinaus: Der höchste Eukalyptus in der Straße hatte Sylvias Dach durchschlagen und eine Ecke ihres Hauses zerdrückt.
Mit der Zeit habe ich angefangen, an Omen zu glauben. Aber ich frage mich, ob ich möglicherweise einen strenger rationalen Verstand entwickelt hätte, wenn ich in einer Zeit vor der Verlangsamung gelebt hätte. Vielleicht hätte in einer anderen Epoche Wissenschaft statt Aberglaube genügt.
Meine Eltern eilten nach draußen, meine Mutter im Bademantel, mein Vater mit freiem Oberkörper. Es war eine dunkle Nacht, bewölkt, keine Sterne. Der Baum lag diagonal im Garten und blockierte Sylvias Haustür. Die Wurzeln lagen frei, hingen in der Luft wie ein aus dem Zahnfleisch gerissener Backenzahn. Ein Teil des Dachs war eingestürzt.
Überall in der Straße blitzten Lampen in Schlafzimmern auf, Türen flogen auf, die Stimmen von Nachbarn erklangen in den Vorgärten. Doch Sylvias Haus blieb dunkel und still. Manche der Männer trabten in Schlafanzügen darauf zu, aber mein Vater war der Erste und stürmte durch das Seitentor außer Sicht. Meine Mutter stand mit verschränkten Armen mitten auf der Straße. Ich stand zitternd in meinem Nachthemd neben ihr.
»Sie hätte den Baum fällen lassen sollen«, sagte meine Mutter.
Zwei von unseren waren bereits entfernt worden. Überall im Viertel sah man Stümpfe, und Kolonnen von Männern in Warnkleidung arbeiteten ununterbrochen an den Straßenrändern, schlugen Bäume, einen nach dem anderen, und transportierten dann die Einzelteile ab.
»Wir sollten unsere restlichen auch absägen«, sagte meine Mutter.
Sie machte ein paar Schritte auf Sylvias Haus zu und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick zu bekommen.
»Wo ist er denn?«, fragte sie.
Früher glaubte ich, meine Mutter wüsste mindestens so viel über Sylvia und meinen Vater wie ich, und jede Frage, die sie stellte, wäre in
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