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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Wirklichkeit ein Code für etwas anderes. Aber vielleicht ahnte sie es nur.
    Sie hatte ebenfalls ihre Geheimnisse. Sie hatte eine riesige Menge neuer Notvorräte im Wandschrank des Gästezimmers versteckt. Sie hortete hunderte von Konserven und verbarg sie vor meinem Vater. Und sie hatte ein Gewächshaus bestellt, ohne ihm Bescheid zu sagen.
    Endlich kam mein Vater durch das Seitentor heraus. Sylvia war bei ihm, sie stützte sich auf seine Schulter, lief aber selbst, barfuß in einem kurzen weißen Nachthemd.
    Mein Vater führte sie auf unsere Veranda, wo sie sich, den Kopf in die Hände gestützt, hinsetzte.
    »Es geht ihr gut«, sagte er. »Sie ist nur verstört.«
    Meine Mutter brachte ihr ein Glas Wasser, hielt allerdings Abstand, als sie es ihr reichte.
    Sylvias Nachthemd ließ ihren gesamten Rücken frei. Vorne zeichneten sich die Umrisse ihrer kleinen Brüste durch die dünne Baumwolle ab. Sie blieb lange sitzen, auf unsere Stufen gekauert wie ein Mädchen. Man sieht nur wenige Erwachsene so weinen, wie sie es in dieser Nacht tat, offen, anhaltend, ohne Scham.
    »Er hat das Klavier getroffen«, sagte mein Vater leise.
    »Das war kein Unfall.« Sylvia wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab.
    Die anderen Nachbarn waren einer nach dem anderen in ihre Häuser zurückgekehrt. Die Lampen wurden ausgeknipst. Es war fünf Uhr morgens in einer dunklen Nacht.
    »Der Baum war krank«, sagte mein Vater.
    »Nein.« Sylvia schüttelte den Kopf. Sie hatte einen extrem dünnen, beinahe schwanenhaften Hals. Die Wirbel in ihrem Nacken traten hervor, als sie den Kopf drehte. »Das war jemand.«
    Sylvia war die letzte Echtzeiterin in unserer Straße. Die Kaplans waren fort. Tom und Carlotta waren fort; eine junge Familie war in ihr Haus gezogen und hatte angefangen zu renovieren.
    »Ich sage es dir, Joel«, meinte Sylvia. Sie sprach den Namen meines Vaters nicht aus, wie ein Nachbar den Namen eines anderen Nachbarn sagt. Meine Mutter hörte es auch. Sie warf meinem Vater einen Seitenblick zu und zog ihren Bademantel am Hals zusammen. Sylvia fuhr fort: »Die wollen mich vertreiben.«
    Später versuchte ich, die letzte Stunde vor dem Weckerklingeln noch zu schlafen, aber es gelang mir kaum. Unterdessen stritten meine Eltern sich in ihrem Schlafzimmer. Ich verstand ihre Worte nicht, wusste jedoch, was sie ausdrückten, denn die Wut drang durch die Tür.
    Es war Tradition unter den Mädchen auf meiner Schule, einander am Geburtstag einen Ballon zu schenken. Es war immer dieselbe Sorte, einer dieser glänzenden Heliumballons, die man im Partyladen kaufte. Man trug ihn den ganzen Tag mit sich herum oder befestigte ihn an seinem Rucksack und ließ ihn hinter sich her schweben, dick und schön, durch Mathe, Englisch, Naturkunde, Sport. Beschwert von einem winzigen Sandsäckchen hopste jeder Ballon über dem Meer von Köpfen in den Korridoren auf und ab, eine Boje, die die genaue Position eines glücklichen und beliebten Mädchens markierte.
    Im Vorjahr hatte Hanna mir meinen Ballon geschenkt – aber das war ein vergangenes Leben oder ein fremdes, ein einstiger, unkomplizierter Frühling.
    In diesem Jahr war ich mir sicher, dass mein Geburtstag in der Schule unbemerkt bliebe. Ich versuchte, gar nicht daran zu denken, trotzdem war ich traurig, als ich an jenem Morgen an der Bushaltestelle Hanna sah, die an den Zaun gelehnt saß, das Handy fest ans Ohr gepresst. Sie sagte nicht einmal Hallo.
    Ich stellte mich am Rande der Gruppe an die Haltestelle und wartete in der Dunkelheit auf Seth. Ich hatte lange überlegt, was ich anziehen sollte, und mich schließlich für den cremefarbenen Mohairpulli entschieden, den ich auch am Tag der Schulfotos getragen hatte, und dazu einen knielangen Jeansrock.
    Die Sterne leuchteten. Scheinwerfer blitzten. Kinder trudelten aus unterschiedlichen Richtungen ein. Manche stiegen aus der Beifahrertür eines Autos mit laufendem Motor, den Rucksack am Arm schaukelnd. Seth war nicht dabei.
    Minuten vergingen. Allmählich fröstelte ich.
    Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und entdeckte dann zu meinem Schrecken, dass die Haare auf meinen Beinen unter der Straßenlaterne glitzerten. Plötzlich war es mir peinlich, nur ein paar Schritte neben Michaelas glatt rasierten Waden zu stehen, die sich genau in diesem Moment reizvoll in einem Paar hochhackiger schwarzer Sandalen bewegten, als sie in das Ohr eines der Jungen aus der achten Klasse lachte.
    Endlich erklang in der Ferne das Geräusch

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